Literarische Werke

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Veröffentlichte Romane

Zweifelsfälle für Fortgeschrittene. Leseprobe

Es war ein Mensch von etwa fünfzig Jahren, ein Mann namens Taras Vanyocki.

Seine Haare waren schon grau, wurden auch schütter; aber Glatze hatte er keine. Er wusch sein Haar selten, es klebte ihm in Strähnen am Kopf, und zwischendurch schimmerte die graue Kopfhaut. Gut roch es nicht, dieses ungewaschene Haar, aber man muß zu seiner, Vanyockis, Verteidigung sagen, für andere wahrnehmbar gestunken hat es auch nicht. So weit ließ es ein Herr Taras Vanyocki nicht kommen. Noch türmte sich zwischen den Müllkübelstierern und ihm ein sozialer Großglockner. Es durfte halt niemand seine Nase in Vanyockis Haare stecken, und Herr Taras pflegte derlei Vertraulichkeit auch nicht zu genießen. Er hielt sich allein. Er wußte nicht, was aus seiner vormaligen Frau geworden war, hätte es wohl auch nicht wissen wollen. Wenn ihn jene unbestimmten Sehnsüchte ankamen, die manche Männer in die tollsten Torheiten treiben, so kaufte er sich eine Flasche Wein, trank sie aus, schlief vierzehn Stunden lang, erwachte mit einem Hornissenschädel und - hatte schon wieder andere Sorgen.

Er war wohl etwas klein, der Herr Taras Vanyocki, einen Meter fünfzig vielleicht oder einen Meter sechzig, und an seinem Körperchen war kein Gramm Fett. Sein Hasengesicht war topfenfarbig, bisweilen ins Aschgraue überwechselnd, mit unruhig flackernden Augen, mit tiefen, wirklich sehr tiefen Falten in den Wangen und einem zum Strich verkniffenen Mund.

Er hielt aber etwas auf sich, der Herr Taras Vanyocki, putzte seinen zwanzig Jahre alten grauen Anzug einmal wöchentlich mit Essig aus und ging niemals ohne Krawatte außer Haus: Gar nie, denn ein Mann ohne Grundsätze ist kein Mann.

Seine Wohnung in der Immergelbgasse im zweiten Bezirk bestand aus einem Raum, fünf mal fünf Quadratmeter; aber ein Herr Taras Vanyocki war kein solcher Haderwachel von einem Untermieter und seine Wohnung daher eine Hauptmietwohnung mit allen Rechten. Und wie bei allen besseren Wohnungen ging das Fenster auch nicht auf den Hof sondern auf die Gasse. Daß in seiner Wohnung trotzdem stetes Dämmer herrschte, hing damit zusammen, daß die Gasse sehr schmal und die gegenüberliegende Hauswand sehr hoch war.

Die Einrichtung, bestehend aus Kautsch, Spind, Tisch, Kredenz und Gasherd, mochte verweichlichten Naturen spartanisch erscheinen. Und verweichlichte Naturen mochten es auch als Mangel empfunden haben, daß sich Klo und Wasser außerhalb der Wohnung befanden. Aber Herr Taras war keine verweichlichte Natur.

Um diese Wohnung zu erhalten, hatte er zwanzigtausend Schilling illegale Ablöse dem Hausinhaber in aller Heimlichkeit zustecken müssen. Fünf Jahre hatte er gebraucht, um diesen Betrag zurückzuzahlen» Aber er hat ihn zurückgezahlt, pünktlich, Monat für Monat, auf Heller und Groschen, mit Zins und Zinseszins.

Die Anschaffung der Wohnung in der Immergelbgasse war aus Gründen der Ehre und der Konsequenz erforderlich geworden. Hatte es doch seine vormalige Frau für zulässig erachtet, einen gewissen Wandura, einen höchstens 20-j ährigen Alkoholiker, nicht nur ohne seine Bewilligung in die gemeinsame Ehewohnung in der Großen Pfarrgasse aufzunehmen und diesen Zustand trotz wiederholter Vorstellungen des gesetzlichen Ehemannes keineswegs abzustellen. Sondern sie hatte sich auch nicht geschämt, das eheliche Schlafzimmer mit besagtem Individuum zu teilen und ihn, Taras Vanyocki, den rechtmäßigen Ehemann, auf die bei aller Bequemlichkeit keinesfalls angemessene Kautsch im Wohnzimmer zu verweisen. Was blieb da einem Herrn von den moralischen Qualitäten eines Taras Vanyocki anderes übrig, als einen zwar schmerzhaften, aber doch sauberen Schnitt zu tun und das lasterhafte Frauenzimmer seinem unvermeidlichen Untergang anheimzugeben?

Herr Taras Vanyocki war kaufmännischer Angestellter; Buchhaltung bis zur Bilanzreife, gewandt in Parteienverkehr und Korrespondenz, an selbständiges Arbeiten gewöhnt, mit den besten Referenzen ausgestattet.

Daß er in den letzten Jahren zwischen 14 Arbeitgebern gewechselt und 24 Monate Arbeitslosengeld kassiert hatte, war weder seiner Faulheit noch seiner Unbeständigkeit geschuldet. Vielmehr stand seine berufliche Laufbahn seit jenen Ereignissen im Juli 1962, von denen noch die Rede sein wird, unter einem gewissen Unstern; und so hatte Herr Taras schon vier Konkurse und drei gerichtliche Ausgleiche miterleben müssen, kam er aber einmal an ein lebensfähigeres Unternehmen, so wurde er zumeist nach kurzer Zeit wieder auf die Straße gesetzt, wenn zum Beispiel jener etwas dümmliche, aber junge Mann, der von einem Hauptbuch keine Ahnung hatte, aus dem Krankenhaus zurückkehrte, als dessen Lückenbüßer Herr Taras eingestellt zu werden entwürdigt worden war.

Indes verstand es Herr Taras, mit dem Arbeitslosengeldauszukommen, und von seinen Ausflügen in die Arbeitsweltpflegten stets sogar Ersparnisse zu resultieren.Er verwaltete seine Finanzen mit der größten Gewissenhaftigkeit, führte doppelte Buchhaltung mit Hauptbuch, Kassabuch, Haupt- und Nebenkonten, Gewinn- und Verlustrechnung sowie einem Kapital- und einem Schlußbilanzkonto,welchletztere er jedes Neujahr abzuschließen pflegte, und dasseit dreißig Jahren. Noch nie waren ihm etwelche Unregelmäßigkeiten vorgekommen, was ja auch noch schöner gewesen wäre.

Die Immergelbgasse, möglicherweise benannt nach jenem Vinzenz Immergelb, der vor gut hundert Jahren einen Leseverein für christliche Handlungsgehilfen gegründet hatte, beherbergte linker und rechter Hand je dreißig recht unansehnliche Häuser für Vanyocki und seinesgleichen, einen Greislerladen und an der Ecke das unentbehrliche Beisel, wo es nicht nur samstags hoch herging. Herr Taras Vanyocki aber, ein Mann von Grundsätzen, ging nur samstags hin, kaufte sich sein Viertel Heurigen und blätterte in den dort aufliegenden Illustrierten. Zu diesem Behufe machte er sich an jedem Samstag um 19 Uhr auf den Weg, wobei er die ganze Immergelbgasse zu durchqueren hatte. Er wohnte auf Nummer 59, in einem vierstöckigen Bau, mit ihm nur noch wenige Leute vom Grund, meist jedoch Studenten, Türken und andere unbegreifliche Wesen, denen er nicht in die Quere zu kommen liebte, die er aber nicht eben zu fürchten pflegte, weil sie ihn in Ruhe ließen.

Im ganzen Haus gab es nur eine, die ihn nicht in Ruhe ließ: eine gewisse Frau Schembera, eine schon etwas ältliche, unansehnliche Person, die stets das gleiche schwarze speckige Taftkleid trug. Die hatte ihn einmal, weiß der Himmel, was sie sich dabei dachte, ein halbes Jahr mochte es schon her sein, auf einen Kaffee in ihre Wohnung eingeladen. Was hätte Herr Taras machen sollen? In seiner - man möchte doch sagen, begreiflichen - Verwirrung sagte er zu; ohne freilich auch nur eine Sekunde lang im Ernst mit dem Gedanken zu spielen, er könnte der Einladung Folge leisten.

Seither lebte er in der Furcht, sie ihrerseits könnte die Stirn haben, ihn an seine Zusage zu mahnen. Um dieser Peinlichkeit zu entgehen, ließ er es sich angelegen sein, wenn er beispielsweise die Wohnung zu verlassen plante, zunächst nur vorsichtig den Kopf hinauszustrecken und nach links und rechts zu schauen, ob die Luft rein war.

Sorge bereitete ihm jedoch, daß alle Vorsicht den Fall nicht ausschloß, daß sie eines Tages in ihrer ganzen bereits unter Beweis gestellten Rücksichtslosigkeit an seine Tür rumpeln und schreien würde: »Vanyocki, rauskommen, Kaffee trinken!«

Dies stellte ihn vor die Notwendigkeit, des Abends ohne Licht auszukommen, um verräterischen Lichtschein zu meiden. Wenn sie dann wirklich anklopfte, konnte er sich ruhigen Gewissens abwesend stellen.

Eine ganz einfache Geschichte. Leseprobe

Es war da ein Jüngling mit Namen Peter Kaiser, der studierte die so trockene wie unzugängliche Rechtswissenschaft, und er war darin, nach dem Verlauf von vier Semestern, an einem Juniabend, so weit gediehen, daß ihn nur noch vierzehn Tage von seiner ersten Staatsprüfung trennten, worin er Kenntnisse unter Beweis zu stellen haben würde, deren meiste erst noch ihrer Aneignung harrten.

Nichtsdestotrotz glaubte er an diesem Abend, so gegen sechs, keine allzugroße Sünde zu begehen, wenn er seine durch intensives Skriptenbüffeln geschwächten Kräfte mit Hilfe eines Abendspazierganges wiederherzustellen suchte, wobei er, wie sich verstand, spätestens in zwei Stunden wieder an die Stätte seiner Pflicht zurückgekehrt sein wollte. Peter hauste zu seinem nicht geringen Leidwesen noch immer in der elterlichen Wohnung, welche sich am Alsergrund, in einer der Seitengassen der Währingerstraße befand. Seine beiden Eltern dienten im Rathaus als Beamte von subalternem Wirkungskreis. Daß ihr Sohn dereinst dortselbst, als Jurist, zu Macht und Ansehen gelangen würde, schien ihnen ausgemacht, obschon er ihnen wegen seiner allzu träumerischen, allzu wenig zielgerichteten Wesensart nicht wenige Sorgen bereitete.

Schon auf dem Gymnasium war es seiner Zerstreutheit wegen immer wieder zu existenzbedrohlichen Krisen gekommen, und die endlich bestandene Reifeprüfung war zu einem nicht geringen Teil der Zähigkeit der Eltern im Aufpassen und Anfeuern geschuldet. Nur, auf dem Gymnasium war halt alles viel leichter gewesen. Jetzt, auf der Uni, fing die Bummelei erst wirklich an. Ein ganzes Semester war schon verloren, und wer weiß, ob ohne die Anwendung der ultimativsten Mittel sich der Herr Filius auch wirklich am Ende des vierten Semesters zur großen Prüfung gemeldet hätte?

Da erschien es nur als konsequent, wenn die gestrenge Mama die effiziente Ausnützung der entscheidenden vierzehn Tage höchstselbst überwachte; aber gegen einen Abendspaziergang nach einem ganzen Tag Fleiß wußte auch sie nichts einzuwenden.Später gelangte sie manchmal in ihrem nächtlichen Grübeln zu der Theorie, daß dies vielleicht ihr größer Fehler in dieser Sache, wenn nicht gar der größte Fehler in ihrem Leben gewesen sei, denn an diesem Abend zerrann die Frucht von einundzwanzig Jahren Mühe wie ein kunstvoll gebauter Schneemann an der Märzsonne, und das kam so: Peter eilte zielstrebig zur Fußgängerzone rund um den Stephansdom, denn hier, auf Graben und Kärntnerstraße, kommt der einsame Flanierer auf seine Rechnung.

An einem schönen Sommerabend drängen sich auf ein paar hundert Metern Straße Menschen aller Rassen, Klassen und Nationen.

Kein Wunder also, daß gerade in dieser Gegend sich Straßenkünstler aller Art produzieren, die dieses Privileg dem Magistrat in jahrelangem, beharrlichem Kampfe abgetrotzt haben.

Am Ende des Grabens, dort wo er an den Stock im Eisen-Platz grenzt, übte bei Peters Erscheinen ein Mädchen mit Gitarre seine Kunst aus, ein unscheinbares Geschöpf, klein und mager, mit blondem Bubikopf.

Sie gehörte zu jenen Unglücklichen, die keinen Passanten zum Stehenbleiben veranlassen können, und es lag auch auf ihrem zu Spendenzwecken ausgebreiteten Gitarrensack noch kein einziger Schilling. Ein paar Schritte weiter, beim U-Bahnaufgang spielten Chilenen, so dicht umringt von Leuten, daß nichts von ihnen zu sehen war, aber die Musik drang herüber und überlagerte den Gesang der Gitarristin.

Die war viel zu warm angezogen, hatte sich doch herausputzen wollen für ihren Auftritt und ihr bestes Stück, ein dickes, grün-rotes Wollkleid angezogen. Der Schweiß rann ihr von der Stirn in die Augen, ihr Kopf war hochrot, und zwischen den Strophen ihrer Lieder wischte sie sich das Gesicht und murmelte Flüche vor sich hin.

Alle Lieder, die sie sang, hatte sie selbst verfertigt, und sie sang eins ums andere, ohne sichs verdrießen zu lassen, mit ihrer hohen, nicht sehr melodischen Stimme, und begleitete sich selbst auf der Gitarre, auch nur mit einfachsten Akkorden. Daß sie nicht gefiel, das verstärkte nur ihren Trotz, und sie wollte nicht vom Platze weichen, bis sie ihr letztes Lied zum besten gegeben haben würde.

Es waren schlimme, traurige Lieder, die sie da sang, so gar nichts, um einen fröhlich gestimmten Abendflanierer zu erfreuen.

So hörte Peter das Lied vom Gesterndämon und das Lied vom Augenschwein, und er applaudierte beide Male, daß ihm die Hände wehtaten. Damit veranlaßte er doch einige Leute, auch stehenzubleiben, die, den Zufälligkeiten ihrer Programmvorwahl wars geschuldet, sie hatte sich die Anfange der Lieder, die sie zum besten geben wollte, alle auf einen Zettel notiert, das freundlichste ihrer Lieder zu hören bekamen, wenn sie auch, um die Säumigen zu strafen, einige Sekunden lang erwog, das Zuckerl ausfallen zu lassen. Aber das waren ihr diese oberflächlichen Herumspazierer auch nicht wert, daß sie ihretwegen irgendwelche Dispositionen traf. Und so hörten die paar Leute denn das Mirakellied: Die Welt ist so groß und voller Wunder Und leuchtend, und duftend von Brot und Wein Und was dich zurückhält, ist wertloser Plunder, Der dich daran hindert, glücklich zu sein Steh auf, komm mit, laß alles stehn Ich geh dir ganz andre Mirakel zu sehn Und was du noch nie zu träumen gewagt Wird Wirklichkeit, noch ehe es tagt.

Jetzt gab es sogar Applaus von mehreren und Geld auf den Gitarrensack, auch Peter legte einen Zwanziger dort hin. Doch das konnte die Sängerin nicht dazu veranlassen weiterzumachen. Sie hatte ihr Pensum erfüllt und jetzt ging sie. Wären die, denen das jetzt vielleicht leidtat, früher gekommen, hätten sie mehr gehört. Also machte sie Anstalten zusammenzupacken, und so trollte sich auch Peter in Richtung Kärntnerstraße.

Peter ging nur ein paar Schritte, bei der Menschentraube, die die Chilenen umlagerte, blieb er stehen, der Anblick des Mädchens war ganz und gar nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben, und wie er sich noch, unter Rumbarasseln, dem ersten Gefühl der Enttäuschung hingab, ihre Bekanntschaft nicht gewonnen zu haben, da spürte er schon eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich umdrehte, stand die Sängerin vor ihm.

»I bin die Danuta«, sprach sie, »in Wirklichkeit heiß i Renate, aber der Namen gibt mir nix, und du, wart, laß mi raten, du heißt sicher Peter, aber der Namen gibt mir aa nix, weißt was, i nenn di Piffpaff.«

Peter lachte etwas übertrieben, sein Herz pochte so heftig, daß ers noch in den Augen spürte, und vor Verlegenheit brachte er kein Wort heraus.

Sie gingen ein paar Schritte weiter, die Kärntnerstraße hinunter, und Danuta griff nach Peters Hand. So gingen sie, bis zum nächsten Würstelstand, Hand in Hand, dort angekommen hängte Danuta PiffpafT ihre Gitarre um und begann eifrig, ihre eben erst gewonnene Barschaft zu zählen. Dann bestellte sie drei »Heiße« auf einem Papierteller und verschlang sie, mit drei großen Schnitten Brot, auf der Stelle.

»Wau«, sagte sie hierauf, »jetzt is mir aber schlecht.« »Was ißtn so schnell?« tadelte Peter genau mit demselben Tonfall, den seine Mama in solchen Fällen zu gebrauchen wußte.

»Trottel«, erwiderte sie, »wo i den ganzen Tag no nix 'gessen hab.«

Er drehte sich verstimmt halb weg und blieb so unschlüssig stehen, indes sie den Senf von dem Papierteller leckte. »Also«, versuchte er, »geh i halt wieder. Hat mich sehr gefreut.«

»Sehr gefreut! Sehr gefreut!« ihre Augen blitzten. »Lädst mi jetzt net ein auf a Cola?«

»I hab ka Zeit, muß lernen, in vierzehn Tagen Prüfung.« »Prüfung! Prüfung! Was heißt das? Willst jetzt gehen und nie erfahren, was i für eine gwesen bin? Ha? Nie im Leben? Nur daßd dei deppate Prüfung hast!«

»Deppate Prüfung, das sagst du«, und Peter seufzte, »du weißt ja net. . .«

Doch nun war sie schon sehr erzürnt, ihre Augen blitzten und funkelten, wütend riß sie ihm die Gitarre wieder von der Schulter: »Los! Schleich du I brauch di net! Mi interessierst net!«

Und wirklich entfernte sich Peter, er ging aber nur ein paar Schritte die Straße vor, kehrte dann eilends um, da stand sie noch immer beim Würstelstand, in Verhandlungen mit dem Standlmann darüber, was man für vier Schilling dreißig alles bekommen könne. »Komm«, sagte Peter und zupfte sie am Ärmel, »i bin manchmal wirklich a Trottel.«

»Wem sagst des?« erwiderte sie und folgte ihm, nachdem er sich brav ihren Gitarrensack umgehängt hatte. »Bist also a Studiosus«, erkundigte sie sich im Gehen; ihre Hand bekam er nicht mehr, sie hatte jetzt beide Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Was studierst denn?« »A Juristl bin i«, sagte Peter mit unsicherer Stimme. »Des wundert mi«, erklärte sie darauf, »schaust aus wie a normaler Mensch.«

»Was hast denn gegen die Juristen?« verteidigte sich Peter, »muß doch solche auch geben.«

»Ja, muß geben«, bestätigte sie, »Pest und Krätzen muß geben und die Heuschreckenplag, und Juristen aa. Menschenfleisch muß gepeinigt werden. Den Himmel mußt dir verdienen.«

»Und du? Was bist du?«

Peter sah keinen Grund, seinen präsumptiven Stand noch zu verteidigen. Der Himmel wußte, daß er sich an der Rechtswissenschaft nur vergriff, um sich den Frieden mit seinen Eltern damit zu erkaufen, und auch weil ihm was Gescheiteres nicht einfiel.

»Was i bin? Das hast ja gsehn.« Sie machte eine ironisch tiefe Verbeugung. »Stelle mich einer geneigten Zuhörerschaft vor als Einmann-Musikensemble für die gehobensten Ansprüche, noch Termine frei, keine Filialen.« »Und von so was kann man leben?«

»Nicht so gut wie Euer prinzliche Gnaden von Mammi und Papi, nehm ich an.«

Sie gingen wieder eine Weile schweigend nebeneinander her. »Die Lieder hast selbst gschrieben?« fragte er dann. »Na, der Pfarrer von Sankt Marx.« »Und wieviele solche Lieder hast denn schon gschrieben?«

»EineMillionfiinfhunderteinundneunzigtausendvierhundert-zweihunddreißigkommasechsundsiebzig.«
»San schöne Lieder, ham mir gut gfallen.«
»Danke für Obst und Südfrüchte.«
»Was bistn so bös? Hab dir eh nix tan.«
»Bin eh net bös. Bin eh nur grantig. Das böse Zipperlein, dasstellte mir ein Bein, drum muß ich traurig sein, soll sich einandrer freun«, reimte sie vor sich hin.
»Was ist denn das, ein Zipperlein?«
»Nix weißt, Bua; dei Schulgeld laß dir zruckgeben. Sü fallendurch oinen erstaunlichen Mangel an Allgemeinbildung auf,mein Herr.«

Das Bollwerk. Inhalt

Die Geschichte vom braven Giesinger, dem schlimmen Kutschera und der klugen Isolde spielt in den frühen Siebzigerjahren des eben vergangenen Jahrhunderts. 1970 hatten die Sozialdemokraten, angeführt von einem großen Zauberer, auch unser  Ministerium, ein Bollwerk der Konservativen, das noch nie in seiner Geschichte einen Roten an seiner Spitze gesehen hatte, erobert. Und da regierten sie nun, nach der Art einer Besatzungsmacht, misstrauisch beäugt von der angestammten Beamtenschaft.

Der neue Minister  berief zuerst unseren Dr. Birnstingl, den einzigen Roten, der sich in unsere tausendköpfige Belegschaft je verirrt hatte, zum Leiter seines Büros. Birnstingl war ein stiller Dulder, der zwanzig Jahre ohne jeglichen Karriereschritt mit Gelassenheit ertragen hatte. Als Chef der Kommandozentrale eines Ministers vermochte er sich jedoch nicht zu bewähren. Die Boshaften, und von denen kamen, wie sich denken lässt, zwölf auf ein Dutzend, schlossen sogar mit dem Spruch "Wie die Birne, so der Stingl" vom Gscher auf den Herrn, was sich, zu ihrem Bedauern, als voreilig erwies.

Birnstingl wieder hatte gleich in den ersten Wochen seiner Stabschefzeit den Dr. Tietze zu sich in das Ministerbüro nachgezogen, der bislang für einen strammen Konservativen gegolten hatte. Parteipolitisch aus dem Fenster gelehnt hatte er sich, zu seinem nunmehrigen Glück, jedoch nie. Dieser Tietze nun zeigte das für einen Kabinettschef erforderliche Geschick. So wurde Birnstingl bei erster Gelegenheit mit einer Abteilung belohnt, Tietze aber blieb Herr der Kommandozentrale. Als dann der neue Minister nach dem Abgang des alten Korn seinen ersten Sektionschef zu ernennen hatte, überging er den fachlich so glänzenden, wenn auch etwas arroganten Tschermak geradeso wie den verdienten Kutschera und den roten Birnstingl, und bestellte stattdessen den famosen Tietze. 

Den Kutschera, Ministerialrat Dr. Franz , einen  Konservativen vom alten Schrot und Korn, Alten Herrn einer katholischen Burschenschaft und regelmäßigen Kirchgänger. traf der   Machtwechsel  besonders arg. Kutschera war ein sehr ordentlicher und loyaler Beamter und gewissenhafter Familienvater. Er hatte zwei Ministern als Sekretär gedient und in diesen acht Jahren seine Kinder nur selten anders als schlafend gesehen. Jedermann hatte geglaubt, dass mit ihm unserem Hause zumindest ein großer Sektionschef, wenn nicht ein Minister zuwachsen würde, nun konnte er froh sein, wenn ihm seine Abteilung belassen wurde. 

Diese Wahrheit nun konnte Franz Kutschera einfach nicht ertragen, und dabei unterstützte ihn sein, wie bei allen streng Gläubigen vorhandenes manichäisches Weltbild. Für ihn waren es die Kräfte der Finsternis, die wieder einmal gegen die Mächte des Lichts aufzutrumpfen vermocht hatten. Landfremdes Volk, das in seinem grenzenlosen Geltungsbedürfnis den Diener gegen den Herrn, die Frau gegen den Mann aufgehetzt hatte, nur um Macht zu gewinnen, wobei ihnen egal war, dass sie damit die Fundamente der Gesellschaft zerstörten. 

So entwickelte Kutschera einen unbändigen Hass gegen alles, was sozialdemokratisch war und es mit der Sozialdemokratie hielt. Und von letzteren, jenen nämlich, die ihr Mäntelchen nach dem Wind drehten, gab es Jahr für Jahr mehr. 

Besonders schmerzlich war der Verrat eines gewissen Dr. Fortelni, eines jungen Kollegen, den Kutschera selbst  kurz vor dem Umbruch in seine Abteilung  aufgenommen hatte. Fortelni  war der Sohn eines seiner früheren Vorgesetzten, eines Mannes  von strengster konservativer Gesinnungsart, und Kutschera hatte damit die berechtigte Hoffnung verbunden, auch im Sohn einen Gleichgesinnten zu gewinnen, einen, der ihm mithalf, diese Abteilung als einen Hort des alten Glaubens gegen den von überall einströmenden Ungeist der neuen Zeit aufrecht zu erhalten.  Fortelni hatte  sich jedoch zu seinem Entsetzen gleichzeitig als verkappter Juso und als unfähig zur Erledigung komplizierterer Aktenmaterien entpuppt. Umso größer war seine Fähigkeit zum Aufbau sozialer Netzwerke, und bald stieg er, unter Zurücklassung gewaltiger Arbeitsrückstände, in die unmittelbare Umgebung des -horribile dictu sozialdemokratischen- Ministers auf.

Als seinen Nachfolger hatte Kutschera den Giesinger installieren können, der ihm von einem ihm befreundeten Universitätsprofessor aufs Wärmste empfohlen worden war, ein Arbeitstier ohne jegliche gesellschaftliche Konnexion, wahrhaftig das genaue Gegenteil des Fortelni. Dies allerdings gegen einen gewissen Widerstand seines nunmehrigen Vorgesetzten, des Sektionschefs Tietze, der der Meinung gewesen war, eine derart unelegante Erscheinung habe in einem Wiener Ministerium nichts zu suchen.

Als nun aber die Nachfolge des kurz vor der Pensionierung stehenden Ministerialrates Brunnbauer zu regeln war, wofür Kutschera schon längst einen ihm äußerst genehmen Ersatz an der Hand hatte, den Sohn eines seiner engsten Gesinnungsfreunde, den er selbst all die Jahre heranwachsen hatte sehen, bekam er zum ersten Mal die Kunst des ministerlichen Personalreferenten Fortelni zu spüren. 

Er wurde nämlich zu Sektionschef Tietze gerufen, und der erklärte ihm ohne Umschweife, dass man für die Nachfolge des Dr. Brunnbauer eine Frau vorgesehen habe, wozu es ja im Zuge der Gleichbehandlungsbemühungen der Bundesregierung höchste Zeit gewesen sei. Die Kollegin sei auch längst nominiert, es handle sich um eine gewisse Dr. Isolde Steiner, die Tochter eines Rechtsanwaltes aus der Provinz, ein unbeschriebenes Blatt mit guten Zeugnissen und Empfehlungen von höchster Stelle. 

"Das ist ein sehr nettes Fräulein", sagte Tietze, "kein feministisches Flintenweib, davon habe ich mich selbst überzeugt. Und deine hoffnungsvollen jungen Männer, sei mir nicht bös, Kutschera, der eine läuft nach drei Wochen zu den Sozi über, der andere ist und bleibt ein hoffnungsloser Flegel, also das wird die kleine Steiner auch noch treffen."

Kutschera, der ja seinem jungen Mann im  Vertrauen darauf, dass er die Wahl habe, schon  Zusagen gemacht hatte, war außer sich vor Zorn. Aller Welt war nun demonstriert,  dass er nicht mehr Herr in der eigenen Abteilung war. Und dazu noch eine Frau! Kutschera war ein absoluter Gegner dieser Erscheinung. Für ihn gehörte die Frau in Haus und Familie, Ausnahmen für Witwen oder Frauen, die halt trotz aller Bemühungen keinen Mann fanden, immer eingeräumt.

Das Bollwerk. Leseprobe

Die folgende Geschichte spielt in den frühen Siebzigerjahren des eben vergangenen Jahrhunderts. 1970 hatten die Sozialdemokraten, angeführt von einem großen Zauberer, auch unser Ministerium, ein Bollwerk der Konservativen, das noch nie in seiner Geschichte einen Roten an seiner Spitze gesehen hatte, erobert. Und da regierten sie nun, nach der Art einer Besatzungsmacht, misstrauisch beäugt von der angestammten Beamtenschaft.

Der neue Minister berief zuerst Dr. Birnstingl, den einzigen Roten, der sich in unsere tausendköpfige Belegschaft je verirrt hatte, zum Leiter seines Büros. Birnstingl war ein stiller Dulder, der zwanzig Jahre ohne jeglichen Karriereschritt mit Gelassenheit ertragen hatte. Als Chef der Kommandozentrale eines Ministers vermochte er sich jedoch nicht zu bewähren. Die Boshaften, und von denen kamen, wie sich denken las st, zwölf auf ein Dutzend, schlössen sogar mit dem Spruch „Wie die Birne, so der Stingl" vom Gscher auf den Herrn, was sich, zu ihrem Bedauern, als voreilig erwies.

Birnstingl hatte gleich in den ersten Wochen seiner Stabschefzeit den Dr. Tietze zu sich in das Ministerbüro nachgezogen, der bislang für einen strammen Konservativen gegolten hatte. Parteipolitisch aus dem Fenster gelehnt hatte er sich, zu seinem nunmehrigen Glück, jedoch nie. Dieser Tietze nun zeigte das für einen Kabinettschef erforderliche Geschick. So wurde Birnstingl bei erster Gelegenheit mit einer Abteilung belohnt, Tietze aber blieb Herr der Kommandozentrale. Als dann der neue Minister nach dem Abgang des alten Korn seinen ersten Sektionschef zu ernennen hatte, überging er den fachlich so glänzenden, wenn auch etwas arroganten Tschermak geradeso wie den verdienten Kutschera und den roten Birnstingl, und bestellte stattdes-sen den famosen Tietze.

Den Kutschera, Ministerialrat Dr. Franz , einen Konservativen vom alten Schrot und Korn, Alten Herrn einer katholischen Burschenschaft und regelmäßigen Kirchgänger, traf der Machtwechsel besonders arg. Kutschera war ein sehr ordentlicher und loyaler Beamter und gewissenhafter Familienvater. Er hatte zwei Ministern als Sekretär gedient und in diesen acht Jahren seine Kinder nur selten anders als schlafend gesehen. Jedermann hatte geglaubt, dass mit ihm unserem Hause zumindest ein großer Sektionschef, wenn nicht ein Minister zuwachsen würde, nun konnte er froh sein, wenn ihm seine Abteilung belassen wurde.

Diese Wahrheit nun konnte Franz Kutschera einfach nicht ertragen, und dabei unterstützte ihn sein, wie bei allen streng Gläubigen vorhandenes, manichäisches Weltbild. Für ihn waren es die Kräfte der Finsternis, die wieder einmal gegen die Mächte des Lichts aufzutrumpfen vermocht hatten. Landfremdes Volk, das in seinem grenzenlosen Geltungsbedürfnis den Diener gegen den Herrn, die Frau gegen den Mann aufgehetzt hatte, nur um Macht zu gewinnen, wobei ihnen egal war, dass sie damit die Fundamente der Gesellschaft zerstörten.

So entwickelte Kutschera einen unbändigen Hass gegenalles, was sozialdemokratisch war und es mit der Sozialdemokratie hielt. Und von letzteren, jenen nämlich, die ihrMäntelchen nach dem Wind drehten, gab es Jahr für Jahrmehr.

Besonders schmerzlich war der Verrat eines gewissen Dr. Fortelni, eines jungen Kollegen, den Kutschera kurz vor dem Umbruch in seine Abteilung aufgenommen hatte. Fortelni war der Sohn eines seiner früheren Vorgesetzten, eines Mannes von strengster konservativer Gesinnungsart, und Kutschera hatte damit die berechtigte Hoffnung verbunden, auch im Sohn einen Gleichgesinnten zu gewinnen, einen, der mithalf, diese Abteilung als einen Hort des alten Glaubens gegen den von überall einströmenden Ungeist der neuen Zeit aufrecht zu erhalten. Fortelni hatte sich jedoch zu seinem Entsetzen gleichzeitig als verkappter Juso und als unfähig zur Erledigung komplizierterer Aktenmaterien entpuppt. Umso größer war seine Fähigkeit zum Aufbau sozialer Netzwerke, und bald stieg er, unter Zurücklassung gewaltiger Arbeitsrückstände, in die unmittelbare Umgebung des — horribile dictu sozialdemokratischen - Ministers auf.

Als seinen Nachfolger hatte Kutschera den Giesinger installieren können, der ihm von einem ihm befreundeten Universitätsprofessor aufs Wärmste empfohlen worden war, ein Arbeitstier ohne jegliche gesellschaftliche Konnexion, wahrhaftig das genaue Gegenteil des Fortelni. Dies allerdings gegen einen gewissen Widerstand seines nunmehrigen Vorgesetzten, des Sektionschefs Tietze, der der Meinung gewesen war, eine derart unelegante Erscheinung habe in einem Wiener Ministerium nichts zu suchen.

Als nun aber die Nachfolge des kurz vor der Pensionierung stehenden Ministerialrates Brunnbauer zu regeln war, wofür Kutschera schon längst einen ihm äußerst genehmen Ersatz an der Hand hatte, den Sohn eines seiner engsten Gesinnungsfreunde, den er selbst all die Jahre heranwachsen hatte sehen, bekam er zum ersten Mal die Kunst des ministerlichen Personakeferenten Fortelni zu spüren.

Er wurde nämlich zu Sektionschef Tietze gerufen, und der erklärte ihm ohne Umschweife, dass man für die Nachfolge des Dr. Brunnbauer eine Frau vorgesehen habe, wozu es ja im Zuge der Gleichbehandlungsbemühungen der Bundesregierung höchste Zeit gewesen sei. Die Kollegin sei auch längst nominiert, es handle sich um eine gewisse Dr. Isolde Steiner, die Tochter eines Rechtsanwaltes aus der Provinz, ein unbeschriebenes Blatt mit guten Zeugnissen und Empfehlungen von höchster Stelle.

„Das ist ein sehr nettes Fräulein", sagte Tietze, „kein feministisches Flintenweib, davon habe ich mich selbst überzeugt. Und deine hoffnungsvollen jungen Männer, sei mir nicht bös, Kutschera, der eine läuft nach drei Wochen zu den Sozi über, der andere ist und bleibt ein hoffnungsloser Flegel, also das wird die kleine Steiner auch noch treffen."

Kutschera, der ja seinem jungen Mann im Vertrauen darauf, dass er die Wahl habe, schon Zusagen gemacht hatte, war außer sich vor Zorn. Aller Welt war nun demonstriert, dass er nicht mehr Herr in der eigenen Abteilung war. Und dazu noch eine Frau! Kutschera war ein absoluter Gegner dieser Erscheinung. Für ihn gehörte die Frau in Haus und Familie, Ausnahmen für Witwen oder Frauen, die halt trotz aller Bemühungen keinen Mann fanden, immer eingeräumt.

Seine eigene Frau, eine Tochter des legendären Sektionschefs Holzhauser, hatte ja auch einen Hochschulabschluss erworben, dann aber, als das Glück sie an die Seite eines Gatten führte, sich nur noch dem Haus und der Familie gewidmet.

Kutschera wohnte mit ihr und den beiden Söhnen Hans und Herbert, wovon der eine Theologie, der andere Jurisprudenz studierte, noch immer mit seinem Schwiegervater in seiner weiträumigen aber etwas antiquierten Wohnung unter einem Dach.

Der eifervolle Sohn eines christlichsozial engagierten Schustermeisters war nie die Wahl des Schwiegervaters gewesen. Der Kutschera, so hatte sein Verdikt schon 1950 gelautet, als der noch nichts weiter als einer seiner vielen Untertanen war, ist ein Prolet. Und bei dieser Einschätzung blieb er auch, als ihm gerade dieser Prolet als Schwiegersohn präsentiert wurde. Einwendungen wären bei der granitenen Durchsetzungskraft seiner Tochter Hermi ohnehin auf unfruchtbaren Boden gefallen.

So heiratete die Hermi ihren Franz und es blieb bei der Missachtung des Schwiegersohns durch den Schwiegervater, woraus sich eine zähklebrige Feindschaft zwischen den beiden Männern entwickelte.

Kutschera ging seinem Schwiegervater, wann immer er konnte, aus dem Weg. Er blieb am Abend möglichst lang im Büro und verbrachte auch die meisten Samstage dort, auch wenn schon lange keine berufliche Notwendigkeit mehr dafür bestand. Wenn er dann doch endlich nach Hause kam, richtete ihm seine Gattin, die es so und nicht anders gewohnt war, sein Nachtmahl in der Küche her, wo sich noch ein vertraulicher Plausch zwischen den beiden Ehegatten ergab.

Hermi Kutschera war eine kleine und dünne Person, der mit zunehmendem Alter schon die Haare dürftig wurden. Ihr Gesicht, das auch in jungen Jahren nicht hübsch gewesen war, zeigte eine gesunde Röte. Sie war durch und durch Tochter aus gutem katholischem Hause, ihre Selbstgewiss-heit umgab sie wie ein stählerner Mantel. Es gab keine Lebenslage, in der sie nicht genau wusste, was zu tun und was zu lassen war.

Kutschera war ihr nicht nur in Treue ergeben, wenn sie anwesend war, nein, auch in ihrer Abwesenheit fühlte er ihr kritisch musterndes Auge stets auf sich gerichtet. Sie traf aber auch ihrerseits keine Entscheidung, ohne ihn vorher ins Vertrauen gezogen zu haben. Geschehen durfte dann doch wieder nur das, was sie für richtig hielt.

Nicht Veröffentlichtes 

Zur schwarzen Gondel

Teuer, aber konventionell

Diese Aufzeichnungen dienen dem Zweck, das Wesen unserer Kunst, ihre Gesetzmäßigkeiten und Feinheiten, den Menschen einer hoffentlich zarter fühlenden und verständnisvolleren Zukunft zu überliefern. Ich weiß, dass ich mich und meine Kollegenschaft mit meinen Geheimnissen in absehbarer Zeit  nichts Weiterem als schmutzigsten Verdächtigungen und möglicherweise einem Gerichtsverfahren  aussetzen würde, werde also dafür sorgen, dass sie zumindest zu meinen Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit nicht erblicken werden. 

Doch es ist wohl besser, gleich in medias res zu gehen, und das, was ich sagen will, anhand eines praktischen Beispieles zu explizieren. Ich wähle dazu den Fall Leander aus, eine übersichtliche, eher unkomplizierte Causa, die jedoch sehr schön das zeigt, worauf es mir ankommt. 

Also, Herr Mario Eisenstein, Magister der Betriebswirtschaftslehre, Vorstandsdirektor eines mittleren Industrieunternehmens, vielleicht Mitte vierzig, schlank, braun gebrannt, teuer aber konventionell angezogen, ein Homunkulus gewissermaßen seiner sozialen Stellung: spricht mich nach meinen Aufzeichnungen zum ersten Mal am 17. März 1997 an, und zwar im Gasthaus zur Schwarzen Gondel, wo ich mich am späteren Nachmittag aufzuhalten pflege, um jeweils ein einziges Glas eines ganz ungewöhnlichen Weines zu mir zu nehmen. 

Ich sitze hier also, ein unauffälliger Anfangsdreißiger, und schlürfe mein Getränk, als sich mir der Kellner nähert und mir die Karte des Herrn Magister Eisenstein übergibt.

"Nein, Kurt", sage ich zu ihm, der Kellner heißt Kurt, ist offensichtlich schwul und verfügt über die Feinheit der Empfindung, welche die Jünger dieser Neigung mitunter auszeichnet, "ich will mich bei meinem bescheidenen Genuss von niemandem stören lassen, schon gar nicht von so einem Bussinessfatzke. Sag ihm, ich sei an seiner Bekanntschaft nicht im Mindesten interessiert. Er soll sich brausen gehen." 

Kurts schmales, gebräuntes, mit einem semmelblonden Kinnbärtchen verziertes Gesicht zuckt auf seine unvergleichliche Weise gleichzeitig schmerzlich bewegt und belustigt, als er sagt: "Sehr wohl, Herr Doktor! Das werd ich ihm ausrichten. Und genau mit diesen Worten." Das wird er wohl nicht gemacht haben, was immer er aber gesagt hat, es genügte, dass der bewusste Herr mit einem Gesicht wie ein begossener Pudel abschwirrte. Nicht einmal seinen Lachs hat er aufgegessen.

Zufällig am Südbahnhof

Ich reiste noch am selben Abend nach Venedig ab, wo ich in einer geradezu spartanischen Pension Aufenthalt nahm. Ich wollte dort in der nötigen Ruhe ein bestimmtes Spiel, für dessen Entwicklung ich bereits Vorschuss genommen hatte, ablieferungsreif  machen. Ich bin nämlich im - wenn man das so sagen kann - bürgerlichen Beruf Erfinder von Spielen, Kunstsprachen und dergleichen. 

Ich verließ, die nebelig-trübe Stadt nicht eher, als bis ich mit meiner Arbeit fertig war. Nur Penthesilea wusste meine Telefonnummer, aber auch sie hatte die Liebenswürdigkeit, mich ungestört zu lassen, obwohl damals ein kniffliger Fall eigentlich meine Anwesenheit als wünschenswert erscheinen hätte lassen. Ein gewisser Herr Ottokar hat dieses Faktum auf seine schleimige Art gewiss schamlos ausgenützt. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Wieder gesehen habe ich meinen Eisenstein bei meiner Rückkehr von Italien am Südbahnhof. Es kann sich da eigentlich nur um einen Zufall gehandelt haben, weil der Tag meiner Ankunft niemandem bekannt war. Niemandem außer Penthesilea, und die hat von Eisensteins Existenz ja damals noch gar nichts gewusst. Ich stehe also mit meinem fahrbaren Koffer auf dem Rollweg, als sich besagter Herr zu mir hindrängelt. 

"Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier so anquatsche. Sie werden sich nicht an mich erinnern. Mein Name ist Eisenstein. Ich würde so gerne eine geschäftliche Besprechung mit Ihnen führen."

"Lieber Herr", erwidere ich, "ich entschuldige es niemals, wenn man mich anquatscht. Und ich wüsste auch nicht, welche Geschäfte ich mit Ihnen treiben könnte. Lassen Sie mich also bitte in Ruhe." Und von da an ist der Herr Luft für mich. Ich schaue angelegentlich in die Halle hinunter, so als würde ich da jemanden erwarten, und bis ich wirklich unten bin, ist er auch schon verschwunden. 

Nun rückt er mir aber schon nicht mehr von der Pelle, denn als ich noch am selben Tag mein Wiedersehen mit dem Restaurant zur schwarzen Gondel und meinem singulären Glas Wein feiere, ist er schon wieder da. Auch diesmal bekommt Kurt die Gelegenheit, ihm eine Abfuhr zu erteilen. 

Er wartet aber vor dem Eingang des Restaurants in einer engen, um diese Zeit recht belebten Gasse auf mich, und als ich das Restaurant so gegen sechs verlasse, steht er da, wie ein Schwimmer, der sich im Strom an einen Felsen klammert, um nicht abgetrieben zu werden. Er schaut mich an mit einem treuherzigen Dackelblick und fragt: "Können wir jetzt reden?"

"Da gibt es nicht viel zu sagen", sage ich. "Sie übergeben mir an einem Ort, den ich Ihnen nennen werde, einen Betrag von zehn Millionen Schilling. Sie erhalten dafür keine Quittung und es kann sein, dass das Geld zum Fenster hinausgeworfen ist. Wir geben keinerlei Garantie für Leistung."

"Aber das ist doch ..." sagt Eisenstein und schnappt nach Luft. Er hat Mühe, mir durch das abendliche Gewühl zu folgen.

"Ja, das ist ganz unmöglich, wollten Sie wohl sagen. Aber so sind nun mal unsere Geschäftsusancen, und wenn Sie nicht anbeißen wollen, sind Sie herzlich eingeladen, es bleiben zu lassen."

"Seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt", sagt Eisenstein. "Man wird doch noch darüber reden können."

"Weder das eine noch das andere", sage ich. "Hier besteht nur nicht der geringste Verhandlungsspielraum. Ich werde genau heute in einer Woche um 18 Uhr am Abend im Stephansdom sein. Sie werden sich, wenn Sie möchten, als frommer Beter zu mir gesellen und in der durch die Konzentration auf die Andacht begreiflichen Zerstreutheit eine Sporttasche der Marke Puma auf der Betbank vergessen. Ich werde sie, wenn mich der Inhalt befriedigt hat, beim Fundamt in der Wasagasse abgeben. Sie werden zwei Tage später um vierzehn Uhr dort vorsprechen und mich, wieder im glücklichen Besitz Ihrer Tasche, beim Verlassen des Gebäudes auf der Gasse antreffen."

Kommen Sie unter meinen Schirm!

Damit ließ ich ihn stehen und eilte nach Hause, um mich für den Abend umzuziehen. Ich sollte meine Penthesilea nach drei Wochen wieder sehen und hatte nichts anderes im Kopf. Sie hatte Konzertkarten, einen radikalen Neutöner namens Färber, der mit Wassertropfen und Küchengeräten zu Werke ging. Nachher führte ich sie zum Essen aus.. Sie war an diesem Abend wieder einmal so atemberaubend schön, dass ich keinen Blick von ihr wenden konnte: Ihr goldenes Haar offen, in einem mohnroten Kleid. Und sie stieg nach unserem Essen ganz allein in ein Taxi, und ich war so frustriert, dass ich einen einsamen Fahrradständer mit den Füßen traktierte.

Eine Woche später ging ich gleich von meinem Wein weg in den Stephansdom. Es war ein regnerischer Tag und ziemlich dunkel drin. Aber ich sah meinen Eisenstein schon von aller Weite. Er kniete neben einem großen Gestell mit angezündeten Opferkerzen, die Hände zum Gebet gefaltet. Ich kniete mich neben ihn und flüsterte, einer jähen Eingebung folgend: "Soll das Werk den Meister loben" und er flüsterte klassikerfest zurück "Doch der Segen kommt von oben." Darauf bekreuzigte er sich, stand auf und verließ den Dom. Die Puma-Tasche fand ich sogleich an der Stelle, wo er gekniet war.

Ich brachte das Geld in unseren Safe und verständigte Penthesilea telefonisch von dem Depot. 

"Ich kann jetzt nicht reden", flüsterte sie, "ich ruf’ zurück", und die mit der Vorstellung, was sie wohl vom Reden abhielt, verbundene Eifersucht nahm mir schier den Atem. Zudem ließ sie mich bis nachts eins warten, ehe ich ihren Rückruf erhielt. Ich war noch nicht zu Bett, hatte Wagner gehört und mich mit einem meiner Privatletitzerln befasst: Der Primzahlentheorie. Mein Herz klopfte wie rasend, als das Telefon läutete. Aber ihre Stimme war so kühl, so geschäftsmäßig, dass mich bald alle Freudigkeit verließ. Ich antwortete bewusst einsilbig und mit schneidender Kälte. Aber das machte ihr wohl keinen Eindruck.

Ich gab Eisensteins Tasche nicht im Fundamt ab, überließ ihn also dem so schmerzlichen wie therapeutisch wertvollen Gefühl, hintergangen worden zu sein, der Angst um sein schönes Geld. Ich erwartete ihn aber Ecke Wasagasse Berggasse.

"Mein Gott!", rief er aus. "Da sind Sie ja. Jetzt habe ich mich aber gefürchtet." Es regnete stark und er führte keinen Schirm mit sich.

"Kommen Sie unter meinen Schirm", sagte ich. "Wir werden die Berggasse hinunter und die Porzellangasse hinauf spazieren. Und bei der Gelegenheit können Sie mir von Ihren Sorgen sprechen. Berggasse ist doch gut für Gesprächstherapie."

"Also, es handelt sich um meinen Vorstandskollegen", begann es sogleich und ohne auf meine Anspielung einzugehen. "Den Generaldirektor Leander. Ich halte das Leben mit ihm nicht mehr aus."

"Was ist an ihm so unaushaltbar?"

"Er steht mir im Weg. Er degradiert mich zum Zweiten. Und ich sehe keine Aussicht, jemals an ihm vorbei zu kommen."

"Also eine triviale Auseinandersetzung unter Ehrgeizigen?", schlussfolgerte ich. "Ich glaube nicht, dass uns der Fall interessiert."

Eisenstein blieb jäh stehen, fasste mich am Arm und hinderte mich am Weitergehen. Ein Passant, der so plötzlich nicht stehen bleiben konnte, rempelte mich an und ging schimpfend weiter.

"Soll das heißen", fragte Eisenstein,  "Sie stellen Bedingungen!"

"Aber natürlich doch.", erwiderte ich, machte meinen Arm frei und ging weiter. "Haben Sie das nicht gewusst? Wir greifen nur in seltenen Ausnahmefällen ein. Solchen, die unser würdig sind."

Er rannte neben mir und meinem Schirm her, das Regenwasser rann ihm über das Gesicht. "Ja, und mein Geld?", japste er.

"Das ist auf jeden Fall futsch", antwortete ich mit einer einladenden Bewegung wieder unter den Schirm zu kommen.  "Ob wir leisten oder nicht. Darüber mussten Sie sich schon im Klaren sein. Aber keine Angst. Wir sind redliche Geschäftsleute. Wir tun, was wir können."

Er leistete meiner Einladung Folge, presste sich nahe an mich. Ich bog gerade in die Porzellangasse ein.

"Hören Sie!", redete er auf mich ein. "Ich habe mich vielleicht unklar ausgedrückt. Es geht mir nicht um das Pöstchen des Generaldirektors. Wenn ich zu einer anderen Firma wechseln möchte, ich hätte Angebote genug. Aber das wäre keine Lösung, das wäre Davonrennen. Das wäre Feigheit vor dem Feinde. Und vor allem, es würde das Gift des Hasses nicht aus meinem Bewusstsein bringen. Ich sage Ihnen etwas: Ich komme von ihm erst los, wenn er tot ist, besiegt, niedergestreckt, erledigt."

"Und warum", hielt ich dagegen,  "konnten Sie ihn nicht auf dem Felde der Ehre besiegen? Ist es nicht feig und schäbig den überlegenen Rivalen hinterrücks aus dem Wege räumen zu wollen?"

"Sie reden wie der Blinde von der Farbe", sagte er wütend. "Der und das Feld der Ehre! Wie war es denn in den letzten zwanzig Jahren? Die Ideen sind von mir gekommen, und der Erfolg war bei ihm. Ich frage Sie, wer hat die elektronische Weiche entwickelt, mit der wir in den Weltmarkt eingedrungen sind? Ich! Ich! Ich! Und wer lässt sich heute dafür feiern? Er! Er! Er! Wer hat McPherson an Land gezogen? Ich! Ich! Ich! Und mit wem geht er nun Golf spielen? Mit ihm! Und mir hat McPherson gestern, als wir uns begegnet sind, kaum die Hand gegeben. Wer sind Sie? hat er mich gefragt. So als wäre ich ein dahergelaufener Sachbearbeiter, der sich aufpudeln will. Ist das gerecht? Ist das ehrenhaft? Sie, wenn ich einmal beginnen würde, Ihnen zu erzählen, von all den Zurücksetzungen und Demütigungen, die dieser Mann mir zugefügt hat, wir könnten bis Mitternacht herumrennen und darüber reden."

"Schön", sagte ich, "das klingt schon besser. Sie meinen also, es sei Ihnen Unrecht von diesem Mann geschehen."

"Was heißt Unrecht? Er hat mir mein ganzes Leben verdorben. Er hat mich ausgesogen wie ein Blutegel.""

"Aber warum sind Sie dann nicht weggegangen?"

"Warum ich nicht weggegangen bin? Ja, das frag ich mich selber. Das war halt sein Geschick. Er hat es verstanden, mich fest zu halten, mit halben Hoffnungen, mit falschen Versprechungen. Sie haben ja keine Vorstellung, wie schlau er im Umgang mit Menschen ist. Ein wie geschickter Manipulant. Und ich so ein naiver Tölpel. Ich bin Wachs in seinen Händen."

"Was nützt es dann", sagte ich, indem ich vor dem Schaukasten eines kleinen Theaters stehen blieb, "wenn Sie diesen geschickten Manipulanten los werden? Sie werden binnen kurzer Frist dem Nächsten in die Hände fallen. Und das Sprichwort heißt doch: Es kommt nichts Besseres nach."

"Nicht in meinem Fall", entgegnete er voll Eifer. "Ich habe mich verändert. Ich bin heute eine echte Führungspersönlichkeit. Nur mit diesem Leander werde ich nicht fertig. Meine Abhängigkeit ist halt historisch gewachsen. Wir sind schon in der Mittelschule zusammengesteckt. Und da hab’ ich schon immer die Mädchen aufgerissen, mit denen er dann ins Bett gegangen ist. Und studiert haben wir gemeinsam. Ich habe ihn durchgepaukt und er hat schließlich die besseren Noten bekommen. Und ich habe diese kleine aber entwicklungsfähige Firma entdeckt, in die wir beide eingetreten sind. Den Rest kennen Sie ja. Es ist eine Lebensabrechnung."

"Also, schön", sagte ich. "Ich werde den Fall in meinen Gremien beraten. Ich komme auf Sie zu. Und noch etwas: Gehen Sie nicht mehr in die Schwarze Gondel! Sehen Sie hier vorne das Lebensmittelgeschäft? Da werde ich am Samstag nach elf etwas einkaufen. Soll ich Sie noch mit dem Schirm bis zu Ihrem Auto begleiten?"

Das war ihm recht, denn es regnete scheußlich. "Was haben Sie denn mit meiner Puma-Tasche gemacht?", erkundigte er sich unterwegs. "Die? Verbrannt. Man weiß ja nicht ..."

Aus weißem Ziegenleder

Ich fuhr von diesem Treffen direkt zu unserer allwöchentlichen Besprechung. 

Penthesilea unterhält ein Public Relations-Büro in einem der Nobelbezirke, in einer Villa, die sie sich gekauft hat. Alles sehr gediegen dort, feinste Stilmöbel, sündteure Teppiche, in ihrem eigenen Büro ein völlig leerer Glasschreibtisch und ein gläserner Schrank mit ihrer Sammlung kostbarer Gläser. Ja, und der gläserne Besprechungstisch mit den Fauteuils aus weißem Ziegenleder. 

Sie hat auch keine Sekretärin, sie hat einen Sekretär. Der ist schwarzhaarig, schön wie ein junger Gott, heißt Degenhart und behandelt alle und jeden mit der gleichen lächelnden Nonchalance. Ob sie mit ihm ins Bett geht? Vielleicht ist er ja schwul.

Hier trifft sich alle paar Tage unsere kleine Streitmacht, bestehend aus Penthesilea, Ottokar und mir. Alle anderen sind nur Marionetten, die Einzelaufträge ausführen und weder die Zusammenhänge noch die meisten Handelnden kennen. 

Warum aber Ottokar zu diesem engsten Kreis zählt, ist mir völlig unerfindlich. Er ist ein vierschrötiger, weißblonder Bursche mit unsichtbaren Augenbrauen, glotzt blöde aus blitzblauen Augen, trägt Jeans und Pullover, ist unfähig, sich das jeweilige Hemd in die Jean und den Pullover über den Arsch zu ziehen. Immer kann man, wenn man ihn von hinten sieht, einen Fetzen Hemd oder -noch schlimmer- etwas von seiner weißen, leberfleckübersäten Haut sehen. Das Haar hängt ihm in Fransen in die Stirn, er grinst gern breit und vertrauenserweckend, wobei er riesige gelbe Mahlzähne entblößt, drückt Hände wie ein Knochenbrecher, hört sich gern lang und salbungsvoll reden, gibt Gemeinplätze aus der Zeitung von sich oder zertritt das, was wir vor ihm gesagt haben, zu einem unkenntlichen grauen Brei breit. Da kann es dann schon passieren, dass ihn Penthesilea anfährt: "Halten Sie den Mund, Ottokar!", und er schweigt sofort, mit einem verlegenen Grinsen zu mir hin, so als sei er im Kartenspiel beim Schummeln ertappt worden und sagt: "Ups" Allein für dieses "Ups" könnte ich ihn jederzeit und ohne Reue erschlagen.

Dieser hässliche Quatschkopf nun ist Frau Penthesileas Favorit, über ihm strahlt die Sonne ihrer Gunst, mit ihm verbringt sie die Wochenenden. Noch selten hat man einen derartigen Grad an Geschmacksverirrung bei einer derart anbetungswürdigen Frau beobachtet. Aber das nur nebenbei. Eifersucht ist mir fremd. Ich bin nur der sachlichen Darstellung verpflichtet. Zurück zur Geschichte.

Ich trage also meinen neu akquirierten Fall vor, während ich beobachte, wie von dem Fenster links hinter Frau Penthesileas Gläsersammlung der Regen in breiten Bahnen heruntertrieft. Ich fröstle noch etwas, weil durch allzu großzügiges Schirmteilen auch mein Anzug an der Seite nass geworden ist. Ich trage also den Fall vor, während ich mit dem Kopf in Frau Penthesileas Boudoir bin. Sie ist selbst schon im Bademantel und hat uns beiden ein duftendes Bad bereitet. Gleich werde ich mich ausziehen und mit ihr in die wohlig-warme Badewanne schlüpfen.

"Na ja", sagt Penthesilea, als ich den Vortrag abgeschlossen habe. "Was meinen denn Sie, Ottokar?"

"Ich? Klarer Fall von Eifersucht. Ich meine, der Eisenstein ist eifersüchtig auf seinen Boss. Vielleicht ist auch der Boss eifersüchtig auf seinen Eisenstein. Das weiß man nicht. Wie heißt es in dieser Operette, der Name liegt mir auf der Zunge: "Ich wollt Sie nicht beleidigen. Ich wollt Sie ja verteidigen."

"Fledermaus", merkte ich an und Ottokar war blöd genug, aufzufahren und "Wo?" zu fragen.

"Er meint", sagte Penthesilea milde, die Operette, von der du sprichst heißt "Die Fledermaus."

"Ja, die Fledermaus also.", plappert Ottokar weiter. "Die Fledermaus ist an allem Schuld. Haben Sie übrigens gewusst, dass die Viecher einen Radarsender im Kopf haben?"

"Kann man hier einmal im Leben ernst reden?", wende ich ein.

"Ottokar redet ernst. Ernster als Sie es begreifen", wirft mir Penthesilea an den Kopf und ich beiße mir vor Ärger auf die Lippen. "Wer ist die Fledermaus, die sieht, was andere nicht sehen und überlegen Regie führt? Der einst so arg verspottete Dr. Falke. Und wer ist das Rindvieh, das in jede Falle tappt? Der einstige Spötter Eisenstein. Ottokar hat also aus der völlig zufälligen Namensgleichheit unseres Mandanten mit dem Protagonisten einer Operette intuitiv ganz Wesentliches herausgearbeitet. Könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, Hektor."

Ottokar wirft mir ein triumphierendes Lächeln zu.

"Also, welche Lösung schlagen Sie vor, Hektor?", fragt Penthesilea.

"Ich meine, wir sollten uns diesen Leander einmal ansehen.", sage ich und Ottokar unterbricht mich mit der Bemerkung: "Aus Eisenstein wird Falke und aus Falke wird Eisenstein."

"So ungefähr", sagt Penthesilea mit einer herrischen, Schweigen gebietenden Geste. "Und wer, Hektor, soll sich den Leander anschauen?"

"Ich nicht. Mich kennt der Eisenstein. Vielleicht sollte Ottokar ..."

"Ja, ich pöble ihn an, wenn er mitternachts besoffen zu seinem Lamborghini geht", meint Ottokar vergnügt.

"Das wirst du nicht tun", erwidert Penthesilea scharf. Den Gentleman nehme ich mir selber vor."

"Das ist aber schade", seufzt Ottokar resigniert. "Gerade die Mitternachtseinlage hat mir doch immer wieder Freude bereitet."

"Es werden sich noch Gelegenheiten ergeben", tröstet ihn Penthesilea. Mir wäre sie bei einer vergleichbaren Gelegenheit über den Mund gefahren.

Ein Job, um sich über Wasser zu halten.

Am Samstag verlegte ich meinen Wochenendeinkauf in den Supermarkt in der Porzellangasse, den ich Eisenstein bezeichnet hatte. Er kam mir bald, ebenfalls mit einem Einkaufswagen ausgestattet, entgegen. In seinem Jogging-Outfit erkannte ich ihn zuerst gar nicht.

"Soll man jetzt Joghurt kaufen?", fragte er mich ganz konspirativ.

"Sie haben doch schon gekauft", antwortete ich, auf seinen Ansatz eingehend. "Ihr Kaufanbot ist angenommen worden. Die Ware wird binnen drei Monaten geliefert."

Man sah richtig, wie er erschrak. "Könnte man das gegebenenfalls rückgängig machen?", fragte er.

"Jederzeit", sagte ich. "Aber die Kaufsumme ist verfallen."

"Dann lassen wir es am besten, wie es ist. Wie trete ich mit Ihnen wieder in Kontakt?"

"Sie joggen in genau einer Woche nachmittags um vier im Schwarzenbergpark."

Penthesilea besorgte sich in der folgenden Woche einen Termin bei Generaldirektor Leander. Wie es ihr gelang, so rasch Zugang bei diesem doch viel beschäftigten Herrn zu erlangen, hat sie uns nicht verraten. Sie lächelt in solchen Fällen immer so wissend. Und Degenhart und Ottokar lächeln nicht minder wissend mit. Nur ich bin immer der ahnungslos Außenstehende. Dabei hat sie ihnen wahrscheinlich genau so wenig erzählt wie mir. Aber die beiden sind halt schlau und mit mir kann man es ja machen.

Sie wirft sich in ein rabenschwarzes Gewand, spielt die schöne und tieftrauernde Witwe, deren Mann beim Baden ertrunken ist und ihr wider alles Erwarten nichts als Schulden hinterlassen hat. Jetzt braucht sie einen Job, um sich über Wasser zu halten.

Es läuft alles wie geschmiert. Leander ist von der schönen Witwe hingerissen. Er würde ihr sofort einen Platz in seinem Vorstandssekretariat anbieten. Aber die Sache ist nicht so einfach. Die Dame, welche diese Funktion derzeit innehat, hat alte Rechte und viel Hintergrundwissen.  Penthesilea ist sich auch ihrerseits gar nicht so sicher, ob sie gerade bei Eisenstein anbeißen soll. Sie hat mehrere Eisen im Feuer. Sie nimmt aber eine private Einladung zum Abendessen an, um die Dienstpostenfrage weiter zu besprechen.

Leistung und keine sauren Gesichter

Das ist der Stand der Angelegenheit am nächsten Samstag, als ich Eisenstein beim Joggen im Schwarzenbergpark treffe. Der Park ist groß und ich habe ihm bewusst keinen bestimmten Platz genannt. Es dauert daher auch bis drei viertel fünf, bis wir, in der Nähe der Jausenstation, aufeinander treffen. 

Ich lade ihn ein, neben mir herzulaufen. Seine Neugier, was den Fall betrifft, vermag ich nicht zu befriedigen. Ganz im Gegenteil. Ich erzähle überhaupt nichts. "Am besten ist es", sage ich, "Sie halten mich Ihrerseits über Ihre Beziehung zu dem betreffenden Herrn auf dem Laufenden. Wir können diese Erkenntnisse dann bei unseren Aktionen berücksichtigen."

"Tun Sie auch wirklich etwas für mein Geld?", fragt er misstrauisch.

"Ja, wer weiß?", antworte ich nonchalant. Und so viel Chuzpe verschlägt ihm fürs Erste die Rede. Aber nach ein paar hundert schweigsam bewältigten Metern beginnt er doch zu reden:

"Er hat jetzt eine neue Flamme. Ungeheuer attraktives Frauenzimmer. Will sie natürlich gleich irgendwo in der Firma unterbringen. Wir sollen ihm seine Schweinereien zahlen. Zu seinem überzogenen Gehalt. Dabei ist der Mann mit einer Dreißigjährigen verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Seine Frau hat er auch aus der Firma. Sie war meine Sekretärin. Hat er mir untergejubelt mit allem möglichen Plisch und Plamm. War die schwächste Kraft, die ich je hatte. Und ich Esel hab ein halbes Jahr gebraucht um draufzukommen, wie der Hase läuft. Und jetzt kommt er mir schon wieder damit, ob ich eine neue Chefsekretärin brauch. Er selber nimmt sich seine Flammen natürlich nicht in seine Umgebung. Eh klar, da will er Leistung sehen und keine sauren Gesichter. Ich soll mich damit herumschleppen. Möcht wissen, was meine Frau sagt, wenn ich mir plötzlich so eine Modemagazinschönheit in mein Vorzimmer setz. Geschweige denn, dass ich mir meine jetzige Sekretärin zur Todfeindin mach, und die ist eine tadellose Kraft. Schaut halt nicht so attraktiv aus. Und die Schönheit manikürt sich und verbringt vierstündige Mittagspausen mit dem Herrn Generaldirektor. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihm alles haarklein erzählt, was bei mir im Büro so geschieht."

Ich höre mir seine ersten Eindrücke über Penthesilea schweigend an und werde es sicher verstanden haben, mich in keiner Weise zu verraten. Ich bringe nur ein trockenes: "Ja, das sind halt so die Büroaffären" hervor und er ist enttäuscht, wie wenig ich mich für seine Details interessierte. Er verabschiedet sich kurz und kühl und ich biete ihm ein nächstes Treffen im Pissoir des Burgtheaters nächst der Tageskassa an. "Im Foyer", schärfe ich ihm ein, "reden wir aber kein Wort miteinander. Es soll doch niemand den Eindruck haben, dass wir alte Bekannte sind, nicht wahr?"

Der Penthesilea berichte ich noch vom Schwarzenbergpark aus mit dem Handy über das Erfahrene. Sie ist gerade dabei, sich für den Abend mit Leander schön zu machen und vernimmt meinen Bericht mit dem gehörigen Amüsement.

Patsch Handi zamm, er ist ein Seher

Ich meinerseits konnte es kaum erwarten, bei unserem nächsten Arbeitsgespräch, das bereits am darauf folgenden Montag stattfand, Näheres über dieses Nachtmahl zu erfahren.

"Also, er ist schon eine Persönlichkeit, unser Leander", sagte Penthesilea. "So ein frecher Lümmel, der sich immer das beste Stück von der Platte nimmt, und dabei so charmant grinst, dass ihm keiner böse sein kann. Und er hat so eine trockene, ironische Art, wie er über sich selber spricht. Und abgesehen von allem anderen, der Mann sieht gut aus. Unverschämt gut sogar. So einer wird vom Leben verwöhnt, ganz klar. Und der andere, Ihr Eisenstein , ist genau das Gegenteil. Ein trockener Arbeitsmensch, der sich freut, wenn er bis Mitternacht im Büro bleiben kann. Viel zu hölzern, um auf sich aufmerksam zu machen. Den räumt unser Leander ab wie einen Christbaum. Das ist ganz klar."

"Und morgen ist Weihnachten!", rief Ottokar der Kindische aus und patschte in die Hände.

"Und wie war es?", drang ich in sie. "Wie habt ihr den Abend verbracht?"

"Ich hab ihn natürlich versetzt", antwortete Penthesilea und grinste. "Erst als er nach einer Stunde völlig verbiestert das Lokal verlassen hat, habe ich mich gezeigt. Und auf seinen Zorn habe ich mit einer geradezu gläsernen Verständnislosigkeit reagiert. Er ist dagestanden wie ein begossener Pudel."

"Was haben Sie denn gesagt?"

"Gar nichts. Ich werd mich doch nicht verteidigen. Nur geschaut. Er hat sich dann auch mehrmals bei mir entschuldigt." 

"Und dann?"

"Bin ich mit ihm auf einen Kaffee gegangen. Das war das Äußerste. Schnell in ein Straßencafé. Ich kann mich ja nicht mit ihm in der Öffentlichkeit zeigen. Er ist jetzt übrigens von der Idee abgekommen, mich in seiner Firma zu installieren. Er denkt daran, mir so ein bisschen finanziell zu helfen."

"Und? Was werden Sie tun?"

"Ich werde ihm sagen: Lieber Freund, ich bin doch keine Prostituierte. Nicht einmal den Kaffee habe ich mir zahlen lassen."

"Und morgen ist Weihnachten!", wiederholte Ottokar, dafür von Penthesilea mit einem geradezu blödsinnig anerkennenden und liebevollen Blick bedacht.

"Und, meine Herren", fragte sie. "Was glaubt ihr, soll ich als Nächstes tun."

"Sie müssen ihn jedenfalls wieder treffen", sagte ich, während Ottokar sie mit einem völlig unpassenden Kinderreim bediente:

"Patsch Handi zamm, Patsch Handi zamm,
was wird der Papa bringen?
Schöne Strümpfe, schöne Schuh,
da wird die Penti springen."

"Ganz richtig, Ottokar", sagte Penthesilea. "Er dringt in mich, dass ich ein Wochenende mit ihm verbringe. Irgendwo in Südspanien, da weiß er was. Ein einsames, aber nobles Hotelchen mit Meerblick. Ich habe ihm gleich gesagt, bitte, mein Mann ist ertrunken. Beim Baden. Weil er sich immer und in allem übernommen hat. Vom Strandleben habe ich genug. Könnte mir nicht passieren, sagt Leander. Ich bin Ausdauersportler."

"Des Meeres und der Liebe Wellen", warf Ottokar ein.

"Was ist das?", fragte Penthesilea und sah ihn scharf und voll Interesse an.

"Weiß ich doch nicht", antwortete Ottokar ganz erschrocken. "Halt so ein Spruch."

"Das ist doch kein Spruch. Das ist der Titel eines Stückes von Grillparzer. So nach dem Volkslied: Es waren zwei Königskinder ... Der männliche Held heißt übrigens, das ist jetzt wirklich lustig, der heißt Leander. Und sie heißt Hero."

"Und der Leander ersäuft also, weil er nicht zu seiner Hero kommen kann?"

"So ist es."

"Unser genialer Ottokar", sagte Penthesilea. "Er ist ein Seher!"

"Die Idee ist von Ihnen, liebe Penthesilea", widersprach ich. "Sie haben sich bei Leander als Witwe eines Ertrunkenen eingeführt. Wahrscheinlich hatten Sie ja in Ihrem Unterbewusstsein noch das Wissen von dem alten Grillparzer-Stück, das Sie nur oberflächlich vergessen hatten."

"Sollen wir uns jetzt gegenseitig abfeiern?", fragte Penthesilea unfreundlich. "Die Idee ist da, das ist die Hauptsache. Jetzt muss geplant werden."

Eine Wiese, wo man ein Zelt aufstellen konnte

So war es. Nun begann die intensive Phase unserer Arbeit. 

Leander, das war entschieden, musste ertrinken. Dieses Schicksal war ja in seinem Namen präformiert. Und es sollte sein, wie im Lied und Stück: "Lieb Herze, kannst du nicht schwimmen? Lieb Herze, so schwimm doch zu mir." 

Was gefunden werden musste, das war ein See oder ein Fluss, so kalt und schwierig, dass Leander ihn nicht zu bewältigen vermochte. 

Hier war es nun Ottokars Rolle, das Entsprechende ausfindig zu machen. Und man muss schon einräumen, in solchen Sachen war er nicht ganz unbrauchbar. Er erkundete die weitere und fernere Umgebung und brachte Polaroid-Fotos und Temperaturmessungen mit. Viele Stunden lang diskutierten wir die Vor- und Nachteile jedes einzelnen Objekts. Schließlich entschieden wir uns für den Hintersteiner See, einen Gebirgssee von 12 Grad Temperatur, an seinem hinteren Ufer, unter einem Felsen, eine  Wiese, wo man ein Zelt aufstellen konnte. Weg über den See etwa 4 Kilometer. Diese Strecke musste Leander schwimmen, in der finsteren Nacht, geleitet durch ein Licht vom Zelt auf der Wiese her, das verlöschen würde, wenn er mitten im See war.

Das war das Grundkonzept, und wir diskutierten einige Nächte durch, bis wir vom Grundkonzept zum eigentlichen Plan kamen. Dabei waren einige ganz grundsätzliche Probleme zu überwinden. Zunächst kam es für uns nicht in Frage, einen platten Mord zu begehen.  Und zwar genau so wenig wie wir bereit waren, in einem Konflikt den Bösen gegen den Guten zu unterstützen. Der Gute musste siegen, wenn auch with a little help of his friends. Und es gehört auch zu unserer Kunst, den Bösen an seinem eigenen Charakter scheitern zu lassen, diesfalls an seiner Geilheit, verbunden mit seiner Prahlsucht. Wenn aber, und diese Frage taucht in unseren Unterredungen wieder und wieder auf, wenn aber der Geile nicht so geil und der Prahlsüchtige nicht so prahlsüchtig ist, sich in unsere Falle zu begeben, was dann? In diesem Fall hätte er, darüber waren wir uns sicher, die Probe bestanden, das Gottesurteil wäre zu seinen Gunsten ausgegangen. Eisenstein wäre ohne weiteren Nutzen um zehn Millionen ärmer. 

Welches Baujahr ist dieser Alfa?

Apropos Eisenstein. Den traf ich ja inmitten dieser Vorbereitungsarbeiten im Pissoir hinter den Tagesschaltern des Burgtheaters. Er stand an einer Schale und tat, als würde er pissen, als ich das Pissoir betrat. Wir waren allein im Pissoir.

"Ich sehe", sagte ich ihm, "die Sache geht prächtig voran. Das Wasser kommt ins Spiel."

"Wie soll ich das verstehen?", fragte er und drehte sich nach mir um.

"Genau so, wie ich es gesagt habe."

"Hören Sie", sagte er und brachte mit ungeduldigen, fahrigen Bewegungen seine Kleidung in Ordnung, "ich habe Ihnen viel Geld gegeben. Ich erwarte, dass dieser Auftrag ordnungsgemäß abgewickelt wird."

"Tun Sie das", sagte ich und schickte mich an, den Raum zu verlassen. Eisenstein folgte mir. Die Tür ging auf und ein anderer Mann trat ein, der neugierig und verwundert uns beide betrachtete.

"Sie sind ein Trottel", sagte ich laut und vernehmlich zu Eisenstein. "Drei Monate haben Sie mir Zeit gegeben, Ihren Alfa zu verkaufen, jetzt ist noch kein Monat vergangen, und Sie werden schon unangenehm. Wer so schlechte Nerven hat ist keine Führungspersönlichkeit. Sie verdienen es, an der zweiten Stelle zu stehen."

"Darf ich fragen", ertönte es von der Pissröhre her, "welches Baujahr ist dieser Alfa?"

"1964, ein Liebhaberstück", antwortete ich und verließ das Pissoir. Ich weiß nicht, ob Eisenstein mir folgte. Vielleicht verlor er mich im Gewühl der Besucher.

Nein, so viel Zeit will ich mir nicht nehmen

Am selben Tag noch traf sich Penthesilea mit Leander. Sie hatte sich einen vorstädtischen McDonald unweit einer belebten Ausfallstraße für das Treffen gewählt. Ich versuche, das Ereignis nach ihren Angaben zu schildern.

Sie kam eine Viertelstunde nach ihm, und fragte höflich, ob an seinem Tisch noch frei sei.

"Gewiss", sagte er und grinste verschwörerisch, "für eine schöne Frau immer. Soll ich Ihnen etwas von der Theke holen? Einen kleinen Hamburger und ein Cola?"

"Nein, so viel Zeit will ich mir nicht nehmen. Ich möchte heute noch zum Hintersteiner See."

"Der Hintersteiner See, was ist das?"

"Ach, nichts Besonderes. Eine ganz spartanische Angelegenheit. Ich zelte da gern. So abseits von aller Zivilisation. Und ich schwimme auch gern in dem See. Der ist nämlich so kalt, dass mich kein Mensch dabei stört. Es gibt nichts dort, keinen Badesteg, nicht einmal eine Zille. Ich hab mir dort einmal mit dem Hubschrauber ein Zelt und was man so braucht hinbringen lassen."

"Sie werden doch ein schönes Wochenende nicht so ganz allein verbringen wollen?"

"Ich werd wohl müssen. Man kann da ausschließlich hinschwimmen. Und es ist saukalt dort."

"Kein Problem, ich leih mir ein Boot aus und bring es mit dem Anhänger her."

"Nein, also wirklich. Und mit so einem faulen Trick möchten Sie sich aus der Affäre stehlen!"

"Was meinen Sie? Soll ich vielleicht eigenhändig schwimmen?

"Und eigenfüßig. Alles andere zählt nicht. Und noch etwas: Ich will nicht, dass im Dorf jeder sieht, wenn da jemand zu mir hinter schwimmt. Nachts also. Ich bin aber nicht zu verfehlen. Ich habe meinen Zeltplatz gut beleuchtet."

"Aber das ist doch ein Hammer", sagte Leander und schüttelte den Kopf.

"Mag schon sein", sagte Penthesilea. "aber unter dem tu ich's nicht. Das ist halt der Preis, wenn man ein Wochenende mit mir verbringen will. Im Übrigen muss ich jetzt gehen. War nett, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und dass ich's nicht vergesse: Auf Ihre Jobangebote komme ich doch nicht mehr zurück." Damit stand sie auf.

"Aber warum denn?", fragte Leander ganz entgeistert.

"Ich hab' mir was Besseres gefunden."

Er eilte hinter ihr her. "Und wenn ich's mir überlege: Wo ist er denn überhaupt, der Hintersteiner See?"

"Nicht in Tirol", sagte sie und verschwand.

Das mit dem Hubschrauber war eine bewusste Fehlinformation gewesen. Ottokar organisierte den Zeltplatz von hinten, vom Wald her. Und er war es auch, der Penthesilea dort hin brachte, ohne dass sie schwimmen musste. Der Gedanke, dass er anschließend allein mit ihr in Gottes freier Natur war, machte mir ziemlich zu schaffen.

Ich hatte sogar gefragt, ob ich mitkommen dürfe, aber da war Ottokar ziemlich unhöflich geworden. "Das ist nur was für Sportler", hatte er gesagt, "nichts für fußmarode Philosophen.", und auch noch zur Leitmelodie eines Kinderfilms gesungen: "Hector, Hector, deine Welt sind die Bücher. Hector, Hector! Denn da drinnen bist du zuhaus."

Am Montag, bei unserer Besprechung, schwärmten die beiden wie die Backfische von der unberührten Natur am Hintersteiner See, was ich wortlos und wohl mit saurem Lächeln über mich ergehen ließ.

"Und was machen wir, wenn wir nichts mehr von dem Herrn Leander hören?", fragte ich, als sie sich ausgeschwärmt hatten.

"Hector", erwiderte Penthesilea, "Sie bringen immer so einen nervösen und sauertöpfischen Zug in unsere Arbeit. Sollte sich das herausstellen, so werden wir eine flexible response darauf finden. Im Moment können wir mit gutem Grund davon ausgehen, dass unsere Rechnung aufgeht."

Dass dem so war, erfuhr ich einige Tage später, als mir Eisenstein gegen mein ausdrückliches Verbot wieder in der Schwarzen Gondel auflauerte. Er kam sogar ungefragt an meinen Tisch, und das, noch bevor ich bestellt hatte. Ich verließ, mit dem freundlichsten Lächeln aber doch, das Lokal. Kurt, der Kellner, sah mir kopfschüttelnd nach.

"Aber, Herr Doktor", sagte er, "wie werden Sie den Abend derpacken ohne Ihren Wein?" Das fragte ich mich auch. Dem armen Eisenstein gegenüber erwies ich mich nachher im Freien  durchaus als höflich. Er machte es mir aber auch leicht, indem er sich mehrmals und in nachgerade demütiger Weise für die Störung entschuldigte.

"Sie können nichts dafür", sagte ich. "Wir haben letztes Mal beide vergessen, einen neuen Termin auszumachen. Aber Sie wissen schon, man sollte uns nicht miteinander sehen. Das könnte bei unserem gemeinsamen Anliegen zu Komplikationen führen."

"Das ist es ja", sagte Eisenstein und fasste mich am Arm, "dieses gemeinsame Anliegen macht mir zu schaffen. Ich verspüre auf einmal so etwas wie Gewissen. Der Kerl tut mir plötzlich Leid. Und das nach allem, was er mir angetan hat. Vielleicht, weil er selber Schwäche zeigt. Er war gestern beim Arzt und hat sich auf Herz und Lunge untersuchen lassen. Und jetzt macht er jeden Tag ein Schwimmtraining. Im Freien, bei den Temperaturen. Wissen Sie, am liebsten wäre es mir, wir würden die ganze Sache abblasen."

"Kommen Sie", sagte ich, "machen wir einen kleinen Spaziergang." Und ich setzte fort, als wir den Platz Am Hof querten: "Das ist nicht so einfach, wie Sie denken. Wir sind mit unseren Vorbereitungen schon ziemlich weit gediehen."

"Ich komme gern für die Kosten auf, die Sache soll mir ohne weiteres eine Million wert sein."

"Aber, lieber Herr Magister Eisenstein", sagte ich mit dem gebotenen Ernst, "Sie wissen doch, dass Ihre zehn Millionen in jedem Fall für Sie verloren sind. Wie immer Sie sich entscheiden."

"Ich bitt Sie", erwiderte Eisenstein, "haben Sie doch Verständnis. Diese zehn Millionen, das ist fast mein ganzes schwarzes Geld. Das ist alles, was ich vor der Finanz in Sicherheit gebracht habe."

"Und Sie legen es sehr gut an", sagte ich. "In Ihre Freiheit. Sie wollen der Erste in Ihrer Firma sein, und Sie werden es schaffen. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Es gibt keine Veranlassung mehr, dass wir uns künftig sehen. Der Fall wird sehr bald zum Abschluss gebracht werden. Und sparen Sie sich den Weg in die Schwarze Gondel. Da werde ich leider nicht mehr hingehen können." 

Wir waren inzwischen in der Wipplinger Straße angekommen, und ich bestieg blitzartig einen Bus der Linie 1 A, der gerade im Begriff war abzufahren. Vom Fenster aus sah ich das verdutzte Gesicht des Eisenstein.

In der nun folgenden Woche verzichtete ich ganz auf mein tägliches Glas Wein. Ich vermied sogar die Innere Stadt, in der Vorstellung, Eisenstein würde durch die Gassen irren und mich suchen. 

Penthesilea benachrichtigte ich sogleich von Eisensteins Arztbesuch und Schwimmtraining. Sie lachte so laut, dass ich den Telefonhörer vom Ohr weg halten musste. Meine Haltung Eisenstein gegenüber wurde in der Montagsitzung gutgeheißen. Ich hatte freilich eine Weile auf Penthesilea und Ottokar zu warten. Ich saß im Vorzimmer bei Degenhart dem Sekretär, und sah ihm dabei zu, wie er an den Zimmerpflanzen herumpusselte. Dabei pfiff er ein Lied, dessen Melodie ich nicht kannte. Mir fielen aber dazu die Worte ein: "Wir sind die drei Grenadiere." Grenadiere, nicht Musketiere. 

"Sagen Sie einmal", fragte ich nach einer Weile, "haben Sie eine Ahnung, wo die beiden stecken?"

"Habe ich nicht", antwortete Degenhart. "Und wenn ich sie hätte, wer weiß, ob ichs Ihnen verraten würde. Aber ich komme, wie gesagt, nicht in die Gewissensqual."

"Was die zwei miteinander herumzutun haben", setzte ich nach einer Pause fort. Degenhart sah von seinen Zimmerpflanzen auf. "Das gibt es doch die eine oder andere Möglichkeit", sagte er.

"Degenhart", fragte ich wieder nach einer Weile, "wissen Sie eigentlich, welche Geschäfte Frau Penthesilea gerade macht?"

"Sicher. Aber nicht, welche sie mit Ihnen macht. Ich bin auch nicht neugierig."

Und dann kamen Penthesilea und Ottokar schwitzend und lachend daher. Sie hatten Badeanzüge für Penthesilea ausgesucht, recht warme und geschlossene, für den kalten Hintersteiner See. Die sahen zutiefst unsexy aus, und das fanden die beiden unbändig lustig.

"Ich werde den Leander anrufen", entschied Penthesilea in der Sitzung, "und ihn etwas Belangloses fragen. Vielleicht kommt er ja auf den Hintersteiner See zu sprechen."

So war es auch. Penthesilea fragte ihn am Telefon, ob 30.000 S monatlich für eine Assistentin der Geschäftsleitung ausreichend sei, und er lachte sein dröhnendstes Macholachen und erwiderte: "So viel würde ich Ihnen nicht zahlen. Bei mir wird auf den Groschen geschaut. Auch bei sehr schönen Kolleginnen. Aber sagen Sie: Was macht denn Ihr Hintersteiner See. Steht Ihr Angebot noch?"

"Doch, doch", sagte Penthesilea, "ich werde am Samstag wieder hinausfahren."

"Und irgendwann in der Nacht", kündigte Leander an, "komme ich. Vergessen Sie nicht das Licht, sonst finde ich vielleicht nicht hin."

"Lauter leere Versprechungen", sagte Penthesilea. "Ein so guter Schwimmer sind Sie nicht."

"Sie werden es erleben", erwiderte Leander und legte auf.

Am nächsten Samstag hatte es den Anschein, als würde auch die Natur unser Vorhaben begünstigen. Es war ein geradezu sommerlicher Frühlingstag mit Temperaturen über zwanzig Grad. Penthesilea fuhr gleich in der Früh mit Ottokar zum Hintersteiner See. Ich selber verbrachte den Tag einsam und ein bisschen verschnupft mit meiner Kunstsprache Tqsezi. Am Abend machte ich einen Spaziergang an der Alten Donau und aß in einem Fischrestaurant. Um neun Uhr war ich wieder zu Hause und legte mir ein Video des Wozzek von Alban Berg ein. Und ich bemühte mich, nicht an Penthesileas Nacht zu denken. So verbrachte ich die ganze Nacht, ohne auch nur eine Minute Schlaf zu finden. Erst am Sonntag gegen Mittag beruhigte mich ein Anruf von Ottokar mit dem vereinbarten Satz "Es ist alles in Ordnung." Ich legte mich zu Bett und schlief bis Montag Früh durch.

Man kann sich vorstellen, dass ich die nachmittägliche Besprechung kaum erwarten konnte. Aber die beiden bereiteten mir die übliche Rätselstunde. Auf meine ungeduldige Frage: "Was ist los?", antwortete Ottokar mit dem letztklassigen Kalauer: "Alles, was nicht angebunden ist."

"Ja, ist jetzt der Fall erledigt oder nicht? Das darf ich wohl noch wissen", herrschte ich ihn an.

"Ja, der Fall ist erledigt. Feuchthaupt ist nicht mehr", sagte Ottokar und lachte besonders blöd.

"Und wie ist es passiert?"

"Ich weiß es nicht", sagte Penthesilea, "ich habe sehr gut geschlafen. Ich habe sogar vergessen, die Lampe vor dem Zelt auszumachen. Die hat am Morgen noch gebrannt."

"Ich auch", sagte Ottokar. "Aber erst, nachdem ich ein sehr kaltes nächtliches Bad genommen hatte. So was ist für mich ideal gegen die Schlaflosigkeit."

Mehr war aus ihnen nicht herauszubringen. 

"Was man nicht weiß", hatte Penthesilea einmal gesagt, "kann man niemand erzählen."

Ein paar Tage später las ich in der Zeitung, dass der bekannte Manager Wolf Leander einem tragischen Sportunfall zum Opfer gefallen sei. Am selben Tag noch ging ich wieder in die Alte Gondel, wo mich Kurt so behandelte, als hätte ich keinen Tag gefehlt. Das Wochenende durfte ich mit Penthesilea verbringen, am Wörthersee. Dem Eisenstein bin ich einmal auf der Straße begegnet. Wir sind aneinander vorbei gegangen, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Immerhin war nach einiger Zeit den Job-Notizen in der Zeitung zu entnehmen, dass Mario Eisenstein erwartungsgemäß den Platz des früh verewigten Wolf Leander an der Spitze der x AG übernommen hatte. 

Herr Vinzenz Vogel Romanfragment

Vinzenz Vogel preist sein Schicksal zum dritten Mal.

Daß ich einsam bin, sagt Vinzenz Vogel, ist gut. Das Leben ist eine trübe Suppe. Ich löffle sie allein. Einmal liebte ich eine Frau, die war breit wie eine Tonne, stark wie ein Bär und schon uralt. Sie trank jeden Abend, wenn sie von der Markthalle, wo sie beschäftigt war, nach Hause kam, zwanzig Flaschen Bier. Wenn sie dann betrunken war, sang sie mit ihrer Baßstimme wunderbare Lieder. 

Sie wohnte Tür an Tür mit mir, und ich hörte sie als sänge sie in meinem Zimmer. Geschlafen hat sie nie. Um vier Uhr in der Früh stand sie wieder auf und ging in die Markthalle. Dann fiel ich bis sechs in einen kurzen aber erholsamen Schlaf. Es war dies die schönste Zeit meines Lebens.

Eines Tages faßte ich mir ein Herz und ging zu ihr. Ich brachte ihr eine Tanne in einem Faß, so groß, daß ich das kaum schleppen konnte und sagte einfach: Ich liebe Sie.

Komm her, sagte sie, zieh dich aus. Wir wollen`s treiben. Als sie nackt war, sah ich, daß sie noch fest im Fleisch war und ihre Brüste prall und voll. 

Ich brach vor Angst vor ihr in Tränen aus, stand zitternd im Türrahmen und wagte mich keinen Schritt weiter. So stand ich bis vier Uhr in der Früh. Sie aber hatte mich sogleich wieder vergessen. Sie lag im Bett, trank ihr Bier, sang ihre Lieder, und um vier Uhr in der Früh kleidete sie sich an und ging an mir vorbei aus der Tür.

Sie kam nie mehr wieder. Eigenartig, daß auch da, wo früher ihre Wohnung war,  gleich die Feuermauer anschließt.


Es war einmal ein Mann, der hatte noch nie im Leben eine Frau gesehen, denn er war blind zur Welt gekommen. Und weil er auch keine Hände hatte, so konnte er sich keine ertasten. 

Der Mann sang gern und viel, die Lieder kamen aus seinem Kopf. Es gab kaum einen, der seine Gesänge ertragen konnte. 

Der Mann hatte einen Wärter, der ihm versprach, ihn mit gering dosiertem Gift binnen drei Monaten umzubringen. Er gab ihm aber in Wirklichkeit kein Gift- 

Schon nach drei Tagen fiel der Blinde so unglücklich/glücklich aus dem Bett, daß er sich das Rückgrat brach. 

Vorher hatte er gesungen:Jetzt weiß ichs's genau
Eine Frau
Ist rund und grau
Und schmeckt nach Kakao. 

Und es war einmal eine Frau, die hatte noch nie im Leben einen Mann gesehen, denn sie war blind zur Welt gekommen. Und weil sie keine Hände hatte, konnte sie sich auch keinen ertasten. 

Die Frau sang gern und viel, die Lieder kamen aus ihrem Kopf, und sie waren so schön, daß oft viele Menschen unter ihrem Fenster stehenblieben, um die  Lieder zu hören. Und alle ihre Lieder schilderten die Süßigkeit der Liebe in derart ergreifenden Tönen, daß mancher Mann da unter ihrem Fenster vor Sehnsucht fast verging. Nicht selten kam es vor, daß einer zu ihr vorzudringen versuchte, aber diese Frau hatte eine Wärterin, die niemanden zu ihr vorließ. 

Eines Nachts, als die Wärterin schon schlief, stand ein Sänger unter ihrem Fenster, der ihren Gesängen mit seinen Gesängen antwortete. Da beugte sie sich so weit aus dem Fenster, daß sie hinunterstürzte und ihn unter sich begrub.

Vorher hatte sie gesungen:Jetzt fällt es mich an
Ein Mann
Ist wie ein Kahn
Und schmeckt nach Tran

Soll das also heißen, so befragte man ihn, das Wesen der Geschlechter bestehe darin, daß keines vom anderen weiß, und somit keines was mit dem anderen zu beginnen weiß?

Konträr, erwiderte Vinzenz Vogel, völlig konträr.

Erste Betrachtung über das Wesen des Unglücks

Am besten ist es, sagt Vinzenz Vogel, über das Wesen des Unglücks nachzusinnen in Zeiten diffusen Unbehagens, wenn ein leichter Kater den Kopf benebelt, und ein gewisser Schmerz genaue Vorstellungen gibt von der örtlichen Lage des Zwölffingerdarms; auch ist ein Frösteln über das Rückgrat hin für die Übung von Vorteil. Man erzeugt es, indem man die beschuhten Füße unter den rinnenden  Wasserhahn  hält. 

Nun läßt sich gerade so gut sagen, das Unglück sei ein schwarzer Hahn mit roten Augen und Krallen wie eine weiße Taube mit grauem Gesprenkel, und daß man es meiden kann, wenn man es beizeiten erkennt. Nur ist man dann bereits sosehr in seiner Bahn, daß man es sehenden Auges auf sich zukommen lassen muß, es sei denn, es geschähe ein Wunder.

Was ist nun zu besorgen, wenn der Müde sich seinem Hause nähert und sieht auf der Matte vor der Tür den schwarzen Hahn sitzen? Empfiehlt es sich umzukehren, seines Wegs zu gehen und den Herrn des Nachts in einer Scheune zu preisen, die -aber das weiß der Müde noch nicht- kaum ist er eingeschlafen einen ihn erstickenden Schwelbrand entfalten wird? Oder soll der Kampf um das Haus aufgenommen werden mit dem schwarzen Ungetüm, das wirklich nach hartem Strauß leblos zu Boden sinkt, aber drinnen findet der Kämpfer seine Angehörigen mit durchschnittenen Kehlen vor? Bliebe noch gütliche Einigung, List oder Ignorieren.

Einem Manne begegnete der schwarze Hahn, und der ging seines Weges weiter, wappnete aber seine Seele zum Empfang des Schlages. Am Abend kam er in eine Stadt, und weil  er bereits müde und hungrig war, wollte er in eine Herberge einkehren. Gewärtig seines Loses betrat er die nächstbeste Spelunke. Da fand gerade eine Hochzeit statt und der mittelose Fremde kam kostenlos zu Esssen und Trinken. Und in der Nacht erfuhr er Frauengunst, ganz einfach, weil er gefiel. 

Als er am anderen Mittag die Spelunke verließ, scharrte der schwarze Hahn auf dem Mist vor dem Haus. Da fragte der Mann den Wirt, ob er nicht einen Kellner brauche, der Wirt aber sagte: Geh mir aus den Augen. Da ging der Mann in die Scheune und wollte sich an einem Balken erhängen. Er sah jedoch, daß schon an jedem der Balken ein Erhängter hing. 

So ging der Mann weiter und begegnete ihm in den nächsten Monaten wenig Schlimmes aber auch wenig Gutes.

Zweite Betrachtung über das Wesen des Unglücks.

Tief berührt uns das Wesen des Unglücks auch in Zeiten des Glücks. Ein Fahrensmann hatte die Liebe einer schönen Kaufmannstochter errungen. Am Hochzeitsmorgen, als er kam, die Braut einzuholen, da saß vor der Schwelle ihres Hauses der schwarze Hahn und ließ ihn nicht hinein. Die Hochzeitsgäste sahen nicht den schwarzen Hahn. Sie hörten den Bräutigam schreien, sahen ihn um sich schlagen und sich wie wahnsinnig gebärden. Und auch daß Blut von seinen Beinen troff, wußten sie sich nicht zu erklären. Wäre der Fahrensmann nicht auf der Stelle geflohen, er hätte viele Jahre im runden Narrenturm zubringen müssen.

Betrachtung über die Dankbarkeit.

Leih mir von deinem Leben, sagte der Schuster zu seinem Hund. Nur ein Jahr oder zwei Jahre. Weißt du, erklärte der Schuster dem Hund, ich spüre, daß ich bald sterben muß, und es gäbe da noch einiges, das ich besser täte, bevor es mit mir zu Ende geht.

Der Hund winselte und rollte sich zu Füssen des Schusters zusammen.

Du willst mir schmeicheln, schrie der Schuster, um mich von meinem Vorhaben abzubringen! Ah, du geizige Seele! Habe ich nicht mein kärgliches Brot mit dir geteilt, Jahr für Jahr? Habe ich dich nicht dem Hundefänger entrissen, damals, in dieser kalten Nacht im November?

Der Hund begann, aus Furcht vor dem Zorn seines Herrn am ganzen Leibe zu zittern. Er versuchte, sich verkehrt herum kriechend zu entfernen. Noch zehn Jahre, schrie der Schuster, kannst du zu leben haben. Warum teilst du sie nicht mir mir? Glaubst du, wenn ich heute oder morgen sterbe, wird es nicht auch mit dir binnen kurzem zu Ende sein? Tausende streunende Hunde gibt es in dieser Stadt und Nahrung nicht für zehn. Der Hungertod oder der Hundefänger, das wird dein Los sein, wenn ich nicht mehr bin.

Der Hund mußte vor Erregung über den Zorn seines Herrn Wasser lassen. Noch nie hatte es etwas Gutes bedeutet, wenn sein Herr so mit ihm geschrien hatte wie . Beim letzten Mal hatte er ihm ein Bein für immer lahmgeschlagen. 

Du willst mich also noch verhöhnen! Du willst mich verhöhnen! Du jämmerliche Kreatur! Du Nichts von einem Tier! 

Er erschlug den Hund mit seinem Stock und starb selbst an dieser Aufregung und Mühe.

Diese Geschichte wird in den Dörfern gerne erzählt, wenn es dies und das zu beweisen gilt. Ich selbst hörte sie kürzlich von einer Metzgersgattin.

Betrachtung über den Sündenfall.

Als Adam und Eva erkannten, daß sie nackt waren, das war an einem Wintermorgen. Sie hatten am Vorabend noch von dem Wein getrunken, der als einziger von ihren Vorräten übrig geblieben war. Sie waren hungrig gewesen, aber es gab da nichts zu essen. Es war ja Krieg und die Stadt war verlassen. Nur sie waren zurückgeblieben in der Stadt. Es konnte Plünderungen geben oder Brände oder ein neues Bombardement.

Sie hatten also von dem Wein getrunken, es waren da noch einige Flaschen weißen Weins, und sie hatten sich in Teppiche eingewickelt, um der Kälte zu widerstehen. Dabei hatten sie doch schon Kleider und Mäntel und alles, was ihnen anzuziehen verblieben war, am Leibe. 

Sie haßten einander, wie nur ein Mensch den andern hassen kann. Eva hielt Adam, Adam Eva für die Quelle allen Unglücks, das seither über sie gekommen war.

Das hatten sei einander nun lang und breit auseinandergesetzt, dabei nicht gespart mit Gehässigkeiten und schieren Verleumdungen, auch einander geschlagen und an den Haaren gezerrt.

Dann war von dem Wein beiden das Bewußtsein geschwunden, aber als sie erwachten, waren sie nackt und hielten einander umschlungen unter den Teppichen.

Ihnen konnte nicht mehr kalt sein, es brannte ja schon das ganze Haus, und noch ehe sie Zeit gefunden hatten, sich zu wundern, waren sie schon am Rauchgas erstickt.

Betrachtung  über den Humor.

Es war einmal einer, der hat Wasserbüffel geheißen, und zaubern hat er können, er hat nur vergessen gehabt, was. Eines Tages ist er zu einem Varietedirektor gegangen und hat ihm das auseinandergesetzt. Der Varietedirektor hat so lachen müssen, daß er vom Sessel gefallen ist und sich den Steiß gebrochen hat. Darüber, daß sich einer den Steiß bricht, weil er über einen  Zauberkünstler lacht, der vergessen hat, was er zaubern kann, hat wieder der Zauberkünstler sosehr lachen müssen, daß er aus dem Fenster gefallen ist.

Betrachtung über Maßstäbe menschlicher Größe (Theodor Heuss gewidmet).

Ha, ich bin ein stolzer Mann, sagte der Fuhrmann, ich mache mir die Erde untertan. Seht hier diesen Baum, sagte der Fuhrmann, er zittert vor Angst vor mir. Wenn ich meinen Fuß auf sie setze, bebt die Erde vor Erregung wie eine Jungfrau, wenn der Prinz zu ihr ins Bett steigt. Bisweilen fällt ein Vogel, der zu nahe an mich herangeflogen ist, vor Schreck tot zu Boden. Erst gestern wieder ist mir das untergekommen. Wenn ich wollte, könnte ich die Sonne zum Stehen bringen, aber ich verschwende nicht meine Befehle an ein so dummes, feuriges Ding.

Der Fuhrmann hatte Pferde aus feinstem Kautschuk, die hatten ihn ein Vermögen gekostet. Den ganzen Tag verbrachte er auf seinem Fuhrwerk. Hü, schrie er, und hussa, schrie er. Und die Pferde aus Kautschuk bewegten ihre Beine wie im Sturm, das Fuhrwerk zitterte und ächzte und wackelte nur so. Freilich kam es keinen Zentimeter weiter. Dies aber nur für den unkundigen Beobachter. In Wirklichkeit, also für den Fuhrmann, flog es mit ungeheurer Geschwindigkeit von Kontinent zu Kontinent. Oder hinaus über die winzige Erde, an der dummen, feurigen Sonne vorbei ins Weltall. Ha, da freute sich der Fuhrmann!

Betrachtung über die Hoffnung

Die Hoffnung ist aus Stein. Sie ist eine Frauenstatue mit abgeschlagener Nase und grotesk verrenkten Armen und Beinen. Die Hoffnung ist eine steinerne Statue und schon ganz mit Moos überwachsen. Mannshohe Brennesseln umstehen die Hoffnung. Die Hoffnung steht in einem tiefen Wald. Der Wald war früher mal ein Friedhof. Es sind noch umgestürzte Grabsteine da. Manchmal kriecht eine Schlange über die Hoffnung. Die Schlange heißt das Glück.Sie kriecht durch die abgeschlagene Nase in das Innere der Hoffnung. Trifft sie dort auf einen Schlangerich, dann paart sie sich mit ihm. Viel Glück kriecht dann im nächsten Jahr über die Hoffnung.

Vinzenz Vogel über die Konsequenz. Dritte Näherung.

In Wettergott stand einst ein Baum, der war hundert Meter hoch. Auf dem Baum wuchsen mannsgroße Kastanien. Einen Monat lang hätte sich einer an einer solchen Kastanie sattessen können. Aber die Wettergotter, die in dieser Zeit viel Hunger litten, aßen nicht von den Kastanien, weil sie der Überzeugung waren, daß ein anständiger Mensch keine Kastanien ißt. Und wenn doch einer einmal in der Verzweiflung seines Hungers sich an so einer Kastanie vergriff, so empörte sie das sosehr, daß sie ihn mit Steinen und Stöcken in die Wüste trieben. So faßten sie eines Tages den Entschluß, den sündhaften Baum umzusägen. Vierzig Säger erschlug er beim Umfallen.

Über Städte

Die Stadt am Fluß. Erster Teil.

Ein Mann wanderte vierzehn Tage und vierzehn Nächte lang. Er aß im Gehen von den Falläpfeln, die auf den Straßen herumlagen, denn es war ja Herbst. Manche Falläpfel zertrat er. Er schätzte das Geräusch, den ihr Widerstand gegen das Außerformgeraten machte, schämte sich dieser Wertschätzung und gab ihr nur in Stunden der Schwäche nach. 

Er trank vom Wasser des Regens, der fast die ganzen vierzehn Tage lang auf ihn troff. Er verstand es, im Weitergehen den Kopf so zu halten, daß ihm das Wasser in den Mund rann. Einmal stürzte er beim Trinken über eine tote Ratte. Dabei überhörte er auch das Geräusch, welches das Außerformgeraten der Ratte gemacht hatte. Dies bedauerte er sehr. 

Der Mann schlief in diesen vierzehn Tagen, immer nach sechzehn Stunden acht Stunden lang, ohne deswegen stehen bleiben zu müssen, tief und völlig traumlos. Wenn er wieder erwachte, war es schon hell über dem regenverhangenen Himmel.

Nach vierzehn Tagen hatte er sein Ziel, eine Stadt an einem Fluß, erreicht. Er wollte dort die Gebieterin seines Herzens besuchen. Er hatte einen Brief von ihr erhalten, der ihm Hoffnung machte, sie werde ihn nun, nach vierzehn Jahren, endlich erhören. Manches, hatte sie geschrieben, was schon immer für uns bestimmt war, erfüllt sich jäh und unvermutet, doch nicht ohne Beteiligtsein unseres Willens.

Es hatte also, nach vierzehn Tagen, der Mann die Stadt an dem Flusse erreicht. Es war  vier Uhr in der Früh, er schlief wie immer tief und traumlos. Er schritt in den Fluß hinein in der Schwärze einer sternlosen Nacht, das Wasser stieg ihm über Schenkel und Bauch, bis zum Hals, bis zum Mund, und dann hatte es ihn verschluckt. 

Die Stadt am Fluß. Zweiter Teil.

Eine Frau lebte am Ufer eines grauen Flusses in einer grauen Stadt. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt in einer grauen Fabrik, die viele graue Straßen von dem grauen Haus an dem grauen Fluß entfernt war, in dem sie wohnte. An jedem Morgen außer Sonntag ging sie unter dem grau verhangenen Himmel durch die grauen Straßen von dem grauen Haus an dem graune Fluß in die graue Fabrik. An jeden Abend außer Sonntag ging sie aus der grauen Fabrik durch die grauen Straßen unter dem grauverhangenen Himmel in das graue Haus, in dem sie wohnte. Am Sonntag aber verließ sie das Haus nicht, da saß sie an dem Fenster ihres Zimmers und schaute den grauen Fluß hinunter, bis er im Abenddämmer verschwand.

Die Frau lebte allein in dem Zimmer, legte sich allein abends in ihr Bett, schlief die ganze Nacht allein und stand des Morgens allein wieder auf, allein frühstückte sie graues Brot und grauen Kaffee.

Einmal, vor vierzehn Jahren, hatte sie ein Mann unten auf der Straße angesprochen, als sie eben von der grauen Fabrik nach Hause kam, in der sie graue Spulen auf graue Maschinen gesteckt hatte. Es war ein grauer Mann gewesen, der wie die Frau einen grauen Arbeitsmantel trug. 

Meine Tage sind einsam, hatte der Mann gesagt, und auch deine Tage sind einsam.

Meine Nächte sind einsam, hatte der Mann gesagt, und auch deine Nächte sind einsam.

Liebte ich dich und liebtest du mich, so wären unsere Tage nicht einsam und unsere Nächte nicht einsam. Daher habe ich mich entschlossen, dich zu lieben, und daher habe ich mich entschlossen, dich zu bitten, mich zu lieben. Denn von allen Lasten, die das Dasein den Menschen so reichlich bietet, ist Einsamkeit die größte.

Ich bin nicht glücklich, hatte die Frau erwidert, aber ich bin auch nicht unglücklich. Liebte ich, so wäre ich manchmal glücklich und meistens unglücklich. Mehr als die lange Zeit des Durstes und die kurze Zeit des Trinkens benötige ich die Zeitlosigkeit, die Abwesenheit von Durst und Trinken.

Der Mann aber sagte: Lieber die lange Sehnsucht und die kurze Erfüllung, die süße Zeit und das bittere Ende als das Hinsinken vom Nichtleben ins Sterben.

Die Frau beschied ihn: Grau ist die Welt und kalt, und verhangen von grauen Wolken ist der Himmel an jedem Tag. Mein Herz aber, das unruhige und sonnenbegierige, schläft.

Da ging der Mann in eine andere graue Stadt an einem anderen grauen Fluß. Jedes Jahr aber schrieb er ihr:

Deine Tage sind einsam und meine Tage sind einsam, deine Nächte sind leer und meine Nächte sind leer. 

Dreizehn Jahre lang erhielt er keine Antwort. Im vierzehnten Jahr aber schrieb sie ihm: Manches, was schon immer für uns bestimmt war, erfüllt sich jäh und unvermutet, aber nicht ohne Beteiligtsein unseres Willens.

Nun erwartete sie ihn Woche für Woche. Aber er kam nicht die erste Woche, er kam nicht die zweite Woche, er kam nie. Ihr Herz aber wurde gramvoller an jedem Tag, der Schlaf floh sie, ihr Körper verlangte keine Speise mehr, schließlich verließ sie nicht mehr ihr Zimmer.

Leute fanden sie in ihrem Bett vor, verhungert und verdurstet. Es waren graue Leute, die Hausmeisterin und ihr Sohn. 

Sie hatte einen Zettel hinterlassen, auf den hatte sie geschrieben: Ich war ohne Wasser, aber ich war auch ohne Durst. Du hast mir den Durst gegeben, nicht aber das Wasser. So verging ich.

Ja, so kommt das, sagte die graue Hausmeisterin, ihr Sohn aber nahm den Zettel und aß ihn auf.

Die Stadt am Fluß. Dritter Teil.

Ein Mann verliebte sich in ein Mädchen, und er sagte es ihr. Ja, antwortete sie, aus uns könnte etwas werden, aber du mußt sieben Jahre warten. Wenn du nach sieben Jahren schwören kannst, keiner anderen Frau auch nur in die Augen geschaut zu haben, dann will ich dich erhören.

Und wirklich verbrachte der Mann sieben Jahre, ohne auch nur einer anderen Frau in die Augen zu schauen. 

Als die sieben Jahre um waren, da kam er wieder und erinnerte sie an ihr Versprechen. Schwörst du mir, fragte die Frau, daß du sieben Jahre lang keiner anderen Frau auch nur in die Augen geschaut hast? Der Mann schwor es. Gut, sagte die Frau, aus und kann noch etwas werden, aber ich verlange von dir, daß du in sieben Jahren sieben mal siebenundsiebzig Frauen liebst. Wenn du nach sieben Jahren schwören kannst, sieben mal siebenundsiebzig Frauen geliebt zu haben, dann will ich dich erhören.

Da ging der Mann hin und liebte in sieben Jahren sieben mal siebenundsiebzig Frauen.

Als die sieben Jahre um waren, da kam er wieder und erinnerte sie an ihr Versprechen. Nun verlangte sie von ihm, daß er ihr von allen sieben mal siebenundsiebzig Frauen erzähle. Und bei jeder mußte er schwören, daß er in ihren Armen nur an sie gedacht habe.

Gut, sagte die Frau hierauf, aus uns kann noch etwas werden. Aber vorher mußt du sieben Jahre lang mit mir in einem Raum leben und jede Nacht das Bett mit mir teilen, aber du darfst mich nicht berühren. Wenn diese dritten Jahre um sind, wirst du alles von mit bekommen, was du dir gewünscht hast. 

Und auch das tat der Mann. 

Im letzten Jahr des dritten Jahrsiebts erkrankte er, und als der letzte Tag des letzten Jahres herangekommen war, da starb er. Siehst du, sagte da die Frau, ich habe gewußt, daß du nicht warten kannst.

Eine vorbildliche Stadt

Es war einmal eine Stadt, die war so groß, daß niemand wußte, wo sie begann, und wo sie endete. Es gab niemanden, der von sich behaupten hätte können, schon einmal auf freiem Feld gestanden zu sein und die Silhouette der Stadt betrachtet zu haben. Die Stadt bestand aus unvorstellbar hohen Türmen. Es gab niemanden, der von sich behaupten hätte können, schon einmal in einem Flugzeug gesessen zu sein und die Türme von oben betrachtet zu haben. Die Türme bestanden aus unzähligen Schachteln und in diesen Schachteln wohnten Männer. In anderen Schachteln wieder, die genauso aussahen wie die Schachteln der Männer, wohnten Frauen. Alle diese Schachteln hatten weder Eingänge noch Ausgänge. Es gab nur kleine Luken, durch die den Bewohnern der Stadt die Nahrung hineingereicht wurde. Die Nahrung bekamen die Bewohner der Stadt jeden Morgen um fünf von Greifarmen, die an den Türmen angebracht waren. Auch Löcher für die Notdurft gab es in den Schachteln. Es war eine sehr schöne, moderne Stadt, es war an alles gedacht. Wenn einer in dieser Stadt starb, und aus noch nicht geklärten Ursachen wurden die Menschen in dieser Stadt nicht besonders alt, ließ er sich selbst durch das Notdurftloch herab. Dies war eine Ehrenpflicht für jeden Bürger der Stadt, alle wurden jeden Tag von Lautsprechern an diese Ehrenpflicht gemahnt. Trotzdem gab es immer wieder Leute, die Asozialen halt, die sich nicht daran hielten und erst vom neuen Mieter durch das Loch gestopft werden mußten. 

Die Bewohner dieser Stadt wurden von Automaten in Reagenzgläsern herangezüchtet. Sie genossen später den vollautomatischen Unterricht in den Kellern, der sie völlig auf ihre zukünftige Lebensaufgabe vorbereitete. Wenn sie erwachsen waren, wurde ihnen die Schachtel für`s Leben zugewiesen. Das war ein großer Tag für jeden, ein Tag, auf den er sich schon lange freute. Ja, auch Freude gab es in dieser Stadt, wie man sieht, und nicht zu knapp. Die Neugier, wie wohl die Schachtel aussehen würde, in die man kam! Dabei gehörte zum Ausbildungsprogramm eine genaue Beschreibung der Schachtel, ja, gar in- und auswendig kannte sie ein jeder, bevor er sie betreten durfte. Aber der Unterricht  unterschied sich doch von der Wirklichkeit, wie die Sexualaufklärung von der Liebe. 

Das Leben in der Stadt war nun das denkbar schönste. Es gab überhaupt keine Arbeit zu tun und die Menschen hatten den ganzen Tag für sich und ihre Hobbys. Auch auf die Hobbys waren die Menschen in ausführlichen Hobbykursen von den fürsorglichen Automaten vorbereitet worden. Da gab es zum Beispiel das beliebte Daumenzählen oder das fröhliche Zehenlutschen. Ja, man kann schon sagen, die Menschen in dieser Stadt waren nicht übel dran. 

Einge Unzufriedene gab es freilich, die gehören ja zum Leben, wie der Schimmel zum Brot. Aber die hatten sich bald die Köpfe an den glatten Wänden der Schachteln eingeschlagen, und -unter uns gesagt- kein Hahn krähte nach ihnen. 

Hähne gab es in dieser Stadt auch gar keine, wozu wären sie gut gewesen, wenn es schon keine Hennen gab? Die Ernährung erfolgte vollbiologisch mit Manna und Ambrosia. Manna war ein sehr schmackhafter Würfel, spinatgrün, der alle Vitamine und Aufbaustoffe für einen Tag enthielt. Ambrosia war eine rötliche Flüssigkeit, auch in einen Würfel verpackt, die im Geschmack entfernt an Wein erinnerte.

Ja, in einer solchen Stadt sollte man leben dürfen, aber unsereinem ist ja nichts vergönnt.

Wettergott, Wetterspott und Krasnodar

Erste Erwähnung der Einöde von Krasnodar. Zugleich Pygmalion, erste Variante

Da gab es so eine Brücke bei Krasnodar, auf freiem Feld, die lag auf dem grasigen Boden, kein Bach und keine Schlucht fand sich unter ihr. Niemand wußte und keiner konnte sich erinnern, wer sie zu welchem Zweck errichtet hatte. Das besondere an ihr war, daß sie völlig neu aussah. Sie war aus frischen Tannenbrettern gezimmert, die Tannenbretter waren hell wie am ersten Tag, die Nägel blinkten schwarz und unverrostet aus dem Holz. Stürme gingen über sie hinweg und die furchtbaren Winter von Krasnodar. Im Frühjahr aber, wenn der Schnee von ihr geschmolzen war, und die Sonne sie getrocknet hatte, war sie wieder völlig unberührt, wie eben erst entstanden. Bis zur nächsten menschlichen Ansiedlung, Wetterspott, waren es schon gut und gern vierhundert Kilometer, keinem Menschen aus Wetterspott wäre es jemals in den Sinn gekommen, die Brücke aufzusuchen. Wer weiß auch schon, ob jemand von der Existenz der Brücke wußte?

Die Vögel mieden die Brücke in der auffälligsten Weise. Nie saß einer auf ihr, nie ließ einer auch nur ein Exkrement auf sie fallen. Dabei wimmelt ja, wie man weiß, die Gegend von Krasnodar von diesen riesigen schwarzen Vögeln mit den weißen Krallen.

Auf den Birken in der Umgebung der Brücke saßen sie mitunter so dicht, daß kein Blatt mehr zu sehen war. 

Einmal schlug sich ein Musikant in wochenlangem Marsch von Wettergott, das ja noch hinter Wetterspott liegt, bis zu jener Brücke durch. Der Mann pflegte unterwegs auf der Fiedel zu spielen, aber bis Krasnodar hatte er zuletzt keine Saite mehr auf der Fiedel. Er nährte sich zuletzt von Gräsern und Pilzen. Auf der Brücke starb er einen süßen Tod. Er träumte den Traum des Pygmalion in der Weise, daß er auf seiner Fiedel immer schöner und wilder gespielt habe, bis ihm die Musik in Gestalt einer Frau gegenübertrat. Und er liebte sie auf der Brücke mit einer Leidenschaft, wie er sie noch nie in seinem kümmerlichen Musikantendasein erlebt hatte.

Seltsam ist es, daß keines der vielen doch meist hungrigen Tiere in Krasnodar sich an der Leiche vergangen hat. Die lag da lange Jahre in Sonne, Sturm und Schnee. Sie verweste auch nicht, sie trocknete, und eines Tages zerfiel sie zu Staub und den Staub wehte der Wind von der Brücke über die ganze Gegend von Krasnodar.

Krasnodar. Das Wesen der Kunst.

In Krasnodar, wo sonst nur diese großen, schwarzen Vögel mit den weißen Krallen leben, wohnte einen Sommer lang so ein kleiner, türkisblauer Vogel, der in dieser Zeit so ziemlich das ganze klassische Repertoire vor sich hinpfiff. Die großen, schwarzen Vögel litten grauenvoll unter diesen ungewohnten Geräuschen, denn vom Heulen des Windes und dem Quaken der Kröten abgesehen hielten sie nur ihre eigenen schnarrenden Stimmen für wohltönend. Sie hielten auch viel auf Stimmkultur, und der schlimmste Vorwurf, den man einer von ihnen machen konnte, war, daß sie unmusikalisch sei. Aber diese endlosen Mozart- Beethoven und Haydn-Symphonien, von den Opernarien ganz zu schweigen, das erschien ihnen schlicht unerträglich. Sie bekamen arge Kopfschmerzen davon, die Augen tränten ihnen, schwächere fielen gar tot von den Bäumen.

Die Krähen ließen nichts unversucht, dem Mißstand ein Ende zu bereiten, aber alle Mord- und Vertreibungsversuche blieben vergeblich. Das Biest war nämlich ungeheuer flink und stets auf der Hut. Den ersten Nachtfrost überlebte es freilich nicht. Aber da waren die Krähen von Krasnodar schon in die Gegend zwischen Wettergott und Wetterspott ausgewandert, wo sie gerade zur Getreideernte zurechtkamen.

Vinzenz und Krasnodar. Erste Näherung an seinen Vater.

Vinzenz Vogel hätte, wenn man ihn gefragt hätte, bereitwillig erzählt, daß er zu Krasnodar geboren sein müsse. Er selbst könne sich ja nicht mehr an die Sache erinnern, sein Vater habe ihn dort im Schnee liegend gefunden, in einer Dezembernacht. Allerdings, würde Vinzenz Vogel einen Frager aufklären, handle es sich hiebei nicht um jenes Krasnodar, das in jedem größeren Lexikon stehe, das Krasnodar am Flusse Kuban, jenes Krasnodar, in dem ihn sein Vater in jener Winternacht vorgefunden habe, sei gar keine Stadt, sondern eine Landschaft und völlig unbewohnt. Nur Krähen gebe es dort, schwarz, mit weißen Füßen, aber die auch nicht im Winter. Sein Vater, ein Fellhändler namens Viktor Vogel, habe mit seinem Hubschrauber in Krasnodar notlanden müssen. Es habe damals minus 55 Grad gehabt, und sein Vater habe allen Ernstes befürchtet, zu erfrieren. Das Kind im Schnee, also ich, würde Vinzenz Vogel fortsetzen, sei völlig unbekleidet im Lichtkegel des Hubschraubers gelegen, habe kräftig geschrieen aber überhaupt nicht gefroren., richtig schön warm sei er gewesen. Sein Vater  habe ihn gleich zum Hubschrauber getragen, dort tüchtig eingewickelt und sich dann auf die Suche nach dem Kindeswegleger gemacht. Er sei aber nicht weit gekommen. Wenig später sei einer seiner Geschäftspartner mit einem anderen Flugzeug gelandet und habe seinen Sprit mit ihm geteilt, sodaß sie beide unbeschädigt in Wetterspott ankamen.

Das Kind aber, so würde Vinzenz Vogel, der manchmal ein kurzes Gedächtnis hat, schließen, sei inzwischen in all diesen Decken, in die es der Vater gewickelt habe, erstickt. Vielleicht ist es deshalb auch besser, daß Vinzenz Vogel nicht nach dem Ort seiner Herkunft gefragt wird.

Die Geburt des Vinzenz. Zweite Variante.

Ich bin, notiert Vinzenz Vogel, in einem Hochsommer geboren worden, im Freien, im mannshohen Gras. Meine Mutter war schon fünzig Jahre alt. Sie verheimlichte meine Geburt ihrer achtzigjährigen Mutter, vor der sie sich sosehr fürchtete, brachte mich bei Bauern unter und besuchte mich viele Jahre lang nur heimlich. Sie wollte mich erst nach dem Tod ihrer Mutter mit nach Hause nehmen, starb aber selbst vor ihrer Mutter, ich war damals zehn Jahre alt. Die Bauern brachten mich zu meiner neunzigjährigen Großmutter, die mich in die leere Speisekammer einschloß und dort verhungern ließ. Sie lebte noch zwölf Jahre. Als man die Leiche der 102-jährigen abholte, fand man mein Skelett in der Speisekammer.

über den Weitblick.

Nach Krasnodar kam in einem Frühling ein Mann, der sich eine Hütte baute und ein Gemüsebeet anlegte. Er stellte auch Fallen und schoß, was er von den Krähen treffen konnte. Die meiste Zeit des Tages aber verwendete er dazu, Löcher in die Erde zu graben, viele Löcher, die alle fünf Meter tief waren und einen Meter breit. Hatte er ein solches Loch gegraben, so deckte er es sorgfältig mit Holz, Laubwerk und Steinen zu.

Im Winter verschwand seine Hütte völlig im Schnee und als der Frühling kam, da lag der tote Mann unter den Trümmern seiner Hütte.

Wölfe haben ihn in langer Geduldsarbeit darunter hervorgezerrt und aufgefressen. In die  Löcher aber, die der Mann gegraben hatte, stürzte noch so mancher Wolf und verendete kläglich.

Wettergott und Wetterspott.

Einmal, so schrieb Vinzenz Vogel, ging ich auf der Landstraße von Wettergott nach Wetterspott. Es war schon Abend, die Sonne, ein zyklamenroter Ballon, hing auf dem dunstigen Himmel. Staubig war die Landstraße, in die wieder und wieder, den Staub aufwirbelnd, der Abendwind fuhr.

Soeben noch war ich im Gewühl des Abendverkehrs auf einer belebten Geschäftsstraße einer europäischen Großstadt gewesen, gerade an einem Hutsalon vorbeigekommen, dessen Auslage ich mangels Interesse keinen Blick vergönnt hatte. Vor mir war eine dicke Frau gegangen, mit wenigen grauen Haaren auf dem Kopf. Die Frau hatte ein etwas enges Kleid aus buntbedrucktem Stoff getragen. Sie schwitzte und das Kleid klebte an ihrer Haut. Immer wieder versuchte sie, es von der Haut zu ziehen. Ein Negerbub, der auf einer Mundharmonika blies, war an ihr vorbeigetänzelt.

Zwischen Wettergott und Wetterspott befindet sich ein einziges, nunmehr kahlgeerntetes Feld. Es begegnete mir ein Mann in der blauen Montur eines Arbeiters.

Ich hoffe, sagte ich zu ihm, Sie wundern sich nicht allzusehr über meine Frage. Ich möchte von Ihnen wissen, wo ich mich befinde. Fast scheint es mir, als wäre dies die Straße zwischen Wettergott und Wetterspott. Ich bin mit aber nicht sicher."

Wohl geraten, mein Freund, antwortete mir der Mann. Sie befinden sich noch eine Stunde von Wetterspott entfernt. Auch weiß ich, daß Sie in Wetterspott erwartet werden.

Wie das?, erwiderte ich, meiner Lebtag war ich noch nicht dort. Wie sollte ich da jemanden kennen?

Ich kann Ihnen nichts dazu sagen, erklärte der Arbeiter, alles, was ich weiß, habe ich Ihnen schon gesagt. Es sei denn, Sie wären gar nicht Vinzenz Vogel aus W., was ich aber nicht glaube.

Es verhält sich so, sagte ich, trotzdem wüßte ich nicht, wie mein Name in Wetterspott bekannt sein sollte.

Da brach der Mann in Tränen aus und entfernte sich kopfschüttelnd von mir. 

Ich lief ihm nach und versuchte, ihn zu bewegen, daß er mir den Grund seiner Tränen verriet. Vergeblich.

Wirklich erreichte ich Wetterspott nach einer Stunde, da war die Sonne schon untergegangen und der Abendwind hatte sich gelegt.

Es besteht ja die Stadt Wetterspott nur aus einer einzigen, sehr langen Straße, an der links und rechts meist schon recht baufällige Hütten stehen. Ich klopfte an die Tür der ersten und es öffnete mir eine sehr beleibte Frau, die ein etwas zu enges, buntbedrucktes Kattunkleid trug. Ein Negerbub saß vor dem Haus auf einem Hackstock und blies auf der Mundharmonika.

Ich hörte, sagte ich zu der Frau, ich werde in Wetterspott erwartet. 

Davon ist mir nichts bekannt, sagte die Frau, haben Sie denn einen Hut bestellt? 

Ich berichtete ihr von dem Arbeiter auf der Landstraße. Sie ließ ihn sich beschreiben. 

Ja, den kenne ich, sagte sie dann, sein Name ist Vinzenz Vogel. Er ist ein Vetter meines verstorbenen Mannes. Er ist nicht recht im Kopf. Denn obwohl er sein ganzes Leben hier in Wetterspott verbracht hat, behauptet er, aus einer großen Stadt im Westen, ich weiß den Namen nicht mehr, zu sein und den größten Teil seines Lebens dort verbracht zu haben. 

Ich verbarg mein Befremden vor dieser Frau und fragte sie, ob sie nicht ein Quartier für die Nacht für mich wüßte und eine Gelegenheit, etwas zu essen.

Das gibt es bei uns in Wetterspott nicht, sagte sie, zu uns kommen keine Fremden. Es wäre nur, daß Sie jemand aus Barmherzigkeit aufnimmt. Aber auch von einem solchen Fall ist mir nicht bekannt.

Aber ich bin doch in der Lage zu bezahlen, sagte ich und zog meine Geldbörse. 

Ich glaube nicht, sagte die Frau, daß in Wetterspott einer den Nachteil, einen Fremden im Haus haben zu müssen, gegen Geld in Kauf nehmen würde. Wir hier in Wetterspott haben keine guten Erfahrungen mit Fremden. Es sind lauter Räuber und Diebe. Und auch wenn sie nicht stehlen, sie entweihen das Haus. Dein Haus, sagt man bei uns, das einen Fremden beherbergt hat, ist nicht mehr dein Haus. Darum schicken wir alle Fremden nach Krasnodar. In Krasnodar sind die Fremden willkommen.

Wie weit ist es noch bis Krasnodar?

Bis Krasnodar? Das weiß ich nicht. Aber wer nach Krasnodar geht, geht immer nach Norden. Und es ist noch keiner aus Krasnodar zurückgekommen.

Auf der langen Stadtstraße von Wetterspott begegnete ich keinem Menschen mehr.Ich klopfte noch an verschiedene Türen und Fenster, aber keiner tat mir auf. Und hinter den Türen hörte ich die Hunde knurren. 

In der Nacht irrte ich viele Stunden durch die Einöde von Wetterspott. Dann legte ich mich, wo ich stand, auf die Erde und schlief sofort ein.

Als ich wieder erwachte, befand ich mich auf einer belebten Geschäftsstraße vor einem Hutsalon. Es war Abend, vor mir ging eine dicke Frau in einem viel zu engen Kattunkleid. Ein Negerbub tänzelte an ihr vorbei und blies auf der Mundharmonika.

So gehts vielen.

Nach Krasnodar kam einst ein Zauberer. Der konnte sich selbst zum Verschwinden bringen. Und als er verschwunden war, ging er niemandem ab.

Der Gesang der Vögel in der Dornensteppe. Erste Variante.

Wir kennen keine Dornen,
nein, Dornen kennen wir nicht.
Wir kennen keinen Durst,
nein, Durst kennen wir keinen.
Und uns fressen keine Schlangen,
nein, Schlangen fressen uns nicht
Verhungert ist von uns noch keiner,
nein, keiner von uns ist je verhungert
Wir werden tausend Jahre alt,
ja, tausend Jahre werden wir alt
Und jeder Tag ist Lust und Wonne,
ja, Lust und Wonne ist jeder Tag
Darum verbreiten wir uns über die ganze Erde,
ja, über die ganze Erde verbreiten wir uns..

Krasnodar. Beitrag zur Geschichte der Erdölwirtschaft.

Eines Tages kamen Männer nach Krasnodar. Und sie brachten viele Rohre und Stangen mit. Nach Öl wollten sie bohren in Krasnodar. Und eine Barackenstadt richteten sie auf. Am Abend sangen sie zur Ziehharmonika, tranken und prügelten sich. Ha, wie lachten sie, wenn sie die Brücke von Krasnodar sahen, die über keinen Fluß ging und so neu aussah, als sei sie gestern gezimmert worden. Und wie einer die Brücke betrat, verschwand er. Sie konnten nach ihm rufen, soviel sie wollten, sie fanden ihn nicht mehr. Daraufhin wollte keiner von ihnen in Krasnodar bleiben. Es gelang nicht einmal, die Türme und die Baracken abzutransportieren. Die Männer flohen Hals über Kopf in ihren Jeeps. Einige wenige schlugen sich bis Wetterspott durch. In der Nacht jedoch setzte sich der Bohrturm von selbst in Bewegung und Blut förderte er aus dem Inneren der Erde, viele tausend Liter Blut. Die schwarzen Vögel mit den weißen Füßen badeten darin. Das dampfte in der Sonne, wie ein Schlachthaus.

Wetterspott. Die Abschaffung der Liebe.

Eines Tages verfügte der Bürgermeister von Wetterspott, daß die Liebe in eine Flasche zu füllen sei. Es war eine große Korbflasche, in der früher Wein gewesen war. Kein besonderer, sie möpselte etwas. Die Liebe war eine helle, etwas zähklebrige Flüssigkeit, der Apotheker hatte sie in einem streng geheimen Verfahren destilliert. Der Bürgermeister verkorkte die Flasche höchsteigenhändig und klebte das Gemeindesiegel darüber. 

Von nun an konnte in Wetterspott nichts mehr aus Liebe geschehen, keiner durfte sich auf sie berufen. Grund für die Maßnahme war gewesen, daß sich die Tochter des Bürgermeisters in den Sohn des Totengräbers verliebt hatte. Sie ließ dennoch nicht von ihm, sondern erklärte, bei ihm bleiben zu wollen, weil er ihr so hohen geschlechtlichen Genuß bereite. Auch die Eltern, die bisher ihre Kinder aus Liebe verprügelt hatten, taten es nun aus Haß oder Grausamkeit. Der Pfarrer in der Kirche erklärte Gott zu einem wesentlichen Geschäftspartner der Stadt Wetterspott, und daß er hoffe, diese angenehme und kulante Geschäftsbeziehung werde noch lange zum gegenseitigen Vorteil andauern. Da dies dem Bürgermeister auch nicht so gut gefiel, öffnete er die Flasche wieder, aber die Liebe hatte eine feste und unansehnliche Kruste auf dem Boden der Flasche gebildet und war gänzlich verdorben. Darauf floh der Bürgermeister nach Wettergott, wo er als Hausbursch in ein Bordell eintrat. Die Wetterspotter aber kommen seither gänzlich ohne Liebe aus. Und nichts hat`s ihnen geschadet.

Wettergott. Gelungene Revolution.

In Wettergott lebte ein Mann, dem alle Häuser, alle Felder, alles Vieh und alles Werkzeug gehörte. Eines Tages beschlossen die Bürger von Wettergott, diesen Mann totzuschlagen. 

Ihr wollt mich also totschlagen, sagte der, also bitte, macht es nicht zu schmerzhaft. Meinen ganzen Besitz vermache ich dem, der mich vom Leben zum Tode bringt.

Da die Bürger von Wettergott beschlossen hatten, den Besitz dieses Mannes gleichmäßig untereinander aufzuteilen, bauten sie eine Axt, die einen so langen Stiel hatte, daß jeder mit Hand anhalten konnte. Als sie aber versuchten, ihn damit hinzurichten, stolperten sie übereinander und er blieb unverletzt. 

Darauf bauten sie eine Guillotine, die eine so lange Auslöserschnur hatte, daß jeder mit daran ziehen konnte. Sie zogen aber so stark, daß die Schnur riß und das Messer oben blieb. Hierauf entschlossen sie sich, ihn mit einem Brett auf einem Bock ins Wasser zu katapultieren. Einem Brett, das so lang war, daß jeder darauf springen konnte. Das klappte, sie hatten aber zu erwägen vergessen, daß der Reiche schwimmen konnte und so sicher an Land kam.

In der nun entstehenden Ratlosigkeit brachten ihre drei Anführer den Reichen gemeinsam um und teilten sich den Besitz genau in drei Teile. War das eine Erleichterung in Wettergott!

Das Unheil an der Wurzel gepackt.

Eines Tages kamen die Leute von Wetterspott zu der Erkenntnis, daß sie ihr ganzes Elend den Leuten von Wettergott verdankten. Sie zogen deshalb mit Kind und Kegel aus, um es den Leuten von Wettergott heimzuzahlen.

Zufällig waren zur selben Zeit die Leute von Wettergott zu der Erkenntnis fortgediehen, daß sie ihr ganzes Elend den Leuten von Wetterspott verdankten. Und auch sie zogen mit Kind und Kegel aus, um es ihrerseits den Leuten von Wetterspott heimzuzahlen.

Da sie aber verschiedene Wege wählten, hinten herum, durch die Wüste von Krasnodar, damit sie nicht frühzeitig entdeckt und ihre Feinde gewarnt würden, begegneten sie einander nicht. 

Als die Leute von Wetterspott in Wettergott ankamen, da fanden sie den Ort wie ausgestorben, und es blieb ihnen nichts zu tun, als alles Brauchbare an sich zu nehmen und die Häuser einzuäschern. Genauso hielten es die Leute von Wettergott in Wetterspott. 

Wie sie einander auf der Landstraße zwischen den beiden Städten begegneten und jeder seine Habe bei einem anderen sah, beschimpften sie einander als Diebe und Plünderer und verprügelten sich gegenseitig so wacker, daß keiner ohne blutende Wunden blieb und viele überhaupt nicht mehr aufstanden. Die noch gehen konnten, rafften so viel an Vieh und Gegenständen an sich, wie sie fortschaffen konnten und gingen nach Hause. Wie groß war da die Überraschung, als sie den Ort abgebrannt fanden. 

Sie brauchten lange, bis sie wieder Krieg gegeneinander führen konnten, aber ihre Ansicht, ihr Elend dem jeweils anderen zu verdanken, hatte sich sehr in ihnen verfestigt.

Das Schicksal der Propheten.

Eines  Tages kam ein Prophet nach Krasnodar, der hatte seiner Heimatstadt den Untergang prophezeit, und da hatten sie ihn mit Steinen und faulen Erdäpfeln verjagt. Da die Prophezeiung des Untergangs sein Metier war und auch eine liebe Angewohnheit, von der er so einfach nicht lassen konnte, prophezeite er auch der Wüste von Krasnodar den Untergang. Die schwarzen Vögel mit den weißen Füßen hielten neugierig in ihrem Gesang inne und setzten sich zu seinen Füßen nieder, tausende über tausende.

Und ich sage euch, sagte der Prophet, wenn ihr eure Herzen nicht läutert, so wird Krasnodar untergehen!

Da gerieten die Vögel in große Aufregung, denn sie wußten weder, was ein Herz ist, noch was "untergehen" bedeutet. Aber weil der Prophet so finster mit den Augen rollte und so wütend seine Stimme erhob, waren sie davon überzeugt, daß es nichts Gutes sein konnte. Gerne hätten sie ihn gefragt, was er denn meinte. Sie begannen auch gleich, wie wild zu krächzen und ihn zu umflattern. Doch er verstand, wie die meisten Propheten, die Sprache von schwarzen Vögeln mit weißen Füßen nicht. Sie ängstigten ihn vielmehr mit ihrem Gekrächz und Geflatter, er fürchtete gar, sie wollten ihm mit ihren scharfen Krallen und spitzen Schnäbeln an den Leib. Soe rannte er davon und die aufgeregten Krähen hinter ihm her. 

Das ist das Schicksal der Propheten, dachte er noch, bevor er erschöpft zu Boden fiel. Wo immer wir die Wahrheit sagen, werden wir vertrieben.

Krasnodar. Der Baum der Erkenntnis.

In Krasnodar gab es einen schwarzen Baum mit schwarzen Blättern und schwarzen Blüten, der trug jedes Jahr große, schwarze Früchte. Die schwarzen Blüten dufteten so betäubend, daß keiner der schwarzen Vögel mit den weißen Füßen es wagte, in seine Nähe zu kommen. 

Ein halbverhungerter Verirrter aß einmal von diesen Früchten. Es waren die Früchte der Allwissenheit. Dem Verirrten stand plötzlich sein ganzes Leben mit letzter Klarheit vor Augen, alles, was ihm daran bislang unverständlich erschienen war, verstand er nun bis ins Letzte. Dachte er an einen bestimmten Tag, so erinnerte er sich nicht nur an alles, was sich für ihn dort zugetragen hatte, er wußte auch, was alle anderen Menschen an diesem Tag gesagt, getan, gedacht hatten. Er konnte auich sein Herz oder seine Leber beim Arbeiten beobachten und jede Einzelheit an diesen Vorgängen stand ihm auf das Deutlichste vor Augen. Betrachtete er einen Stein, so wußte er nicht nur seine Zusammensetzung, nein, auch seine Geschichte von Anbeginn trat ihm deutlich ins Bewußtsein. Schließlich wagte er auch noch, an die Welträtsel zu denken, und sie offenbarten sich ihm vollständig.

Schade, daß diese Früchte keinen Nährwert hatten und kein Wasser enthielten, sodaß der Mann dann schließlich doch noch verhungert und verdurstet ist.

König Fußens Glück und Ende

Vergißmeinnicht

Nach Krasnodar kam einmal ein Mann mit einem großen Sack Vergißmeinnichtsamen. Er grub ein Feld um und säte die Samen. Als die schwarzen Vögel mit den weißen Füßen das sahen, fraßen sie den ganzen Vergißmeinnichtsamen auf. Obwohl ihnen so übel war, daß sie fast daran starben, konnten sie sich an den Vorfall schon nach kurzer Zeit nicht mehr erinnern.


In grauer Vorzeit herrschte über Wettergott, Wetterspott und die Wüste von Krasnodar ein König, der hieß Fuß. Und weil er glaubte, daß nach ihm noch viele Füße kommen würden, nannte er sich Fuß I.

Er wollte sich ein Schloß bauen lassen, das größer sein sollte, als das der Königs Minos. Da er aber kein Geld besaß, zog er zunächst in eine aufgelassene Kerzenmacherwerkstätte. 

Darauf ernannte er seine Regierung: den Haushofmeister, den Kriegsminister und den Schatzminister. Der Haushofmeister war taub, der Kriegsminister blind und der Schatzminister war lahm. Ich bin hungrig, sagte der König zum Haushofmeister. Geh, und hole uns Wein und Gebratenes!

Der Haushofmeister verstand kein Wort. Und da es ihm in der zugigen Kerzenmacherwerkstätte nicht gefiel, wollte er nach Hause gehen. Er sagte das auch dem König, der freilich seine Sprache nicht verstand, aber glaubte zu verstehen, zu dienen Majestät.

Der Haushofmeister ging.

Nun wollen wir aber tüchtig essen und trinken, sagte der König zu seinen beiden Ministern. Doch der Haushofmeister kam und kam nicht zurück. Ich wette, sagte da der König zum Kriegsminister, unser Haushofmeister ist den Feinden in die Hände gefallen. Geh, Kriegsminister und befreie ihn!

Aber, ich bin doch blind, Herr!, wandte der Kriegsminister ein.

Na, und?, meinte der König, Enrico Dandolo war auch blind und hat sogar Konstantinopel erobert.

Da ging der Kriegsminister, den dieser Vergleich sehr schmeichelte. Er geriet in die Wüste, wo er verhungerte und verdurstete. 

Als wieder einige Stunden vergangen waren, sagte der König zum Schatzminister: Unser wackerer Kriegsminister ist nun auch den Feinden in die Hände gefallen. Geh, Schatzminister, nimm alles Gold, das du in unseren Truhen findest, und löse ihn aus. Das bin ich meinen treuen Dienern vor meinem Gewissen schuldig.

Herr!, rief da der Schatzminister, es ist kein Geld da, und ich kann nicht laufen. 

Was heißt, es ist kein Geld mehr da?, schrie der König. Bin ich nicht Fuß I, der reichste Fürst der Christenheit? Du hast meine Schätze auf die Seite gebracht, Hundsfott! Sofort geh und zeig mir das Versteck!

Aber ich kann doch nicht gehen, Herr!Dich werd`ich gehen lehren!, schrie der König und traktierte ihn mit Fußtritten. Das aber brachte den Schatzminister auch nicht zum Laufen.

Gut, sagte da der König, so will ich dich tragen. Und er setzte ihn auf seine Schultern.  So liefen sie in die Ortschaft Wetterspott hinein, und bei jedem Haus fragte der König: Ist es hier, mein Gold?, und der Schatzminister antwortete jedesmal: Nein, Herr, hier ist es nicht. 

Vor der Kirche brach der König vor Erschöpfung zusammen und da lagen sie dann alle beide. Da es Nacht war, entdeckte sie niemand. Als sie erfroren waren, gegen Morgen, fiel Schnee und deckte sie zu.

So lagen sie bis zum Frühling, und wenn am Sonntag die Leute zur Kirche gingen, gingen sie über sie hinweg.

Nach der Schneeschmelze, als sie zum Vorschein kamen, sagten die Leute: Das ist also unser König Fuß und sein Finanzminister. Wenig hat man in letzter Zeit von ihnen gehört.

Der Haushofmeister schaufelte ein Grab und in dieses Grab legte er beide hinein. Er war, sagte er, ein guter und gerechter König. Noch nach tausend Jahren wird man von ihm singen und sagen.

Aber das verstand ja niemand. 

Des Kaisers neue Kleider.

Als Hans Christian Andersen einmal nach Wetterspott kam, er hatte seinen besten Reiseanzug an und war nur auf der Durchreise, da liefen die Frauen schreiend vor ihm davon, die Männer warfen ihm zornerfüllte Blicke zu, die Kinder lachten.

Andersen, dem bekanntlich an nichts auf der Welt mehr gelegen war, als daran, Sympathie und Anerkennung zu ernten, war davon tief erschüttert. Er entschloß sich, sogleich auf die Polizeiwache zu gehen, um das seltsame Vorkommnis zu klären, das ihm ungeklärt so viele schlaflose Nächte bereitet hätte.

Er betrat die Wachstube und bemerkte das vor Mißbilligung Starrwerden der Polizisten.

Ich bin, so sagte er, auch seinerseits nicht ohne Mißbilligung, der weltberühmte Märchendichter Hans Christian Andersen. Und man behandelt mich hier wie einen dahergelaufenen Lumpen.

Andersen hin oder her, bemerkte unwirsch der Postenkommandant, das berechtigt sie noch lange nicht, hier splitternackt herumzulaufen.

Der Krieg zwischen den Krähen.

Zwischen den schwarzen Krähen mit den weißen Füßen in Krasnodar entbrannte einst ein heftiger Krieg. Es hatte nämlich ein Teil von ihnen einen König gewählt, während ein anderer Teil in wüster Anarchie weiterleben wollte. Der König hieß Luftluft II. Einen Luftluft I. hat es eigentlich nie gegeben, aber das zu behaupten wagten nur die anarchistischen Vögel. Die königstreuen hätte es ein Auge gekostet.

Im Reiche des Königs Luftluft II. entwickelte sich nun eine prächtige Hierarchie. Jede Krähe erhielt einen Rang und ein Amt. Wenn zwei von ihnen sich auf einen Ast niederlassen wollten, gab es keinen Zweifel mehr, wer zu weichen hatte. So praktisch war das. Ein Teil der königstreuen Krähen befaßte sich mit dem Sammeln von Würmern, der andere mit seinem Verzehr.  Den würmersammelnden Krähen blieb in den Abendstunden noch Zeit genug, sich die Bäuche mit wilden Samen vollzuschlagen. Und wenn einmal doch keine Zeit dafür blieb, so legten sie sich fröhlich und voll Vorfreude auf den kommenden Tag mit hungrigen Mägen zur Ruhe. Die königstreuen Krähen verband ein unbändiger Haß gegen die anarchistischen. Da gab es keinen Unterschied zwischen einem einfachen Wurmsammler und einem Herzog.

Nachdem die anarchistischen Krähen einige schwere Niederlagen gegen die königstreuen erlitten hatten, sahen sie sich genötigt, auch ihrerseits eine Hierarchie einzuführen, um ihre Kampfkraft zu stärken. Ihr Oberhaupt hieß freilich Niedrigster Diener des Krähenvolkes und ihre Herzöge Mindere Brüder der Krähen. Davon abgesehen gab es freilich wenig Unterschied zwischen den beiden Systemen. Aber das zu behaupten hätte jede anarchistische Krähe ein Auge gekostet.

So organisiert gelang es nun den anarchistischen Krähen, sich gegen die königstreuen zu behaupten. Sie unterschieden sich in ihrer Lebensweise kaum mehr voneinander, auch wenn die Wurmsammler Helden der anarchistischen Krähenarbeit hießen. Ihre Feindschaft jedoch war zum Inhalt ihres Lebens geworden, und so auch der Krieg, der seither kein Ende mehr hat.

111. Über die nichtswürdigen Torverlängerer.

Wer nach oder aus Wetterspott will, der muß durch ein Tor, das ist so niedrig, daß sich nur Zwerge nicht den Kopf an seiner oberen Begrenzung anhauen. Da es nun aber eines Wetterspotters unwürdig ist, seinen Kopf vor einem Tor zu beugen, verlassen nur noch wenige die Stadt. Die wenigen, die es doch hin und wieder tun müssen, erkennt man an ihren Kopfverbänden. 

Es hat auch Heroen gegeben. Die haben sich so oft hintereinander den Kopf angeschlagen, daß sie daran gestorben sind. Sie gelten allgemein als Vorbilder der Jugend.

In Wetterspott gibt es eine kleine, verfemte Partei, die fordert, man solle das Tor verlängern. Wer ihr beitritt, kann allerdings seine Hoffnung auf Reputation und bürgerliches Fortkommen begraben. Unter angesehenen Wetterspottern gilt die Bezeichnung Torverlängerer als eines der übelsten Schimpfworte.

Der Turmbau zu Wettergott.

In Wettergott stand einst ein Mann auf, der behauptete, er wisse nun, warum es mit dem Turmbau zu Babel nicht geklappt habe. Er habe in alten Keilschriften die Berechnungen gefunden, sie eingehend studiert und sämtliche Fehler in der Statik entdeckt. Es stehe nunmehr einem erfolgreichen Turmbau durch die Wettergotter nichts mehr im Wege.

In glühenden Worten schilderte er auf zahlreichen Volksversammlungen den Ruhm, den Wettergott durch die Errichtung eines solchen Turmes erwerben könne. Es gelang ihm auch wirklich, beträchtliche Gelder für das Vorhaben zu sammeln.

Schade, daß er sich dazu entschloß, anstatt des Turmbaus mit dem Geld ein Wirtshaus in Wetterspott zu erwerben, das nach einem Blitzschlag mitsamt seinem neuen Besitzer verbrannte.

Die Wettergotter sind noch heute von seinen lauteren Absichten überzeugt, und es gehört zu den Grundfesten ihres Selbstverständnisses, damals nur knapp am Weltruhm vorbeigegangen zu sein.

Der beste Scharfrichter, den es je gab.

In Wetterspott war einst ein Scharfrichter, der war zugleich der größte Mörder der Stadt. Er war ein feinsinniger Kenner aller Feindschaften, Rankünen, aller teuflischen Interessenkonflikte in der Stadt. So ermordete er der Reihe nach alle grausamen Erbonkel, verwünschten Ehegatten, auch lästig dahinsiechende kretinöse Kinder verschmähte er keineswegs. Sowie ein solcher Sachverhalt ruchbar wurde, folgte sogleich der Mord. Und auch die Entdeckung ließ nicht lange auf sich warten. Immer fanden sich eindeutige Beweisstücke, wie Bänder, Nadeln, Handschuhe oder es wurde der Mord mit der Waffe des Hauptinteressierten am Tod des Opfers begangen. So war die Verurteilung ein Leichtes und das Fallbeil stand nie still. Insofern war der wackere Scharfrichter nicht selbstlos. Völlig neidlos aber überließ er den Ruhm, ein genialer Kriminalist zu sein, dem Polizeichef der Stadt.

Leider litt der begnadete Mann an Schwerflüssigkeit des Blutes. Als er sein Ende herannahen fühlte, provozierte er einen Streit mit dem Polizeichef, der durch seine vermeintlichen Erfolge so eitel geworden war, daß er kein Widerwort mehr ertrug. Der Scharfrichter reizte ihn sosehr, daß er in aller Öffentlichkeit, auf dem Marktplatz, Morddrohungen gegen ihn ausstieß. Sosehr erregte sich der Polizeichef, daß er gar nicht bemerkte, wie ihm der Scharfrichter seine Dienstpistole entwendete. Mit der entleibte sich der Scharfrichter.

Notizen zur Weisheit.

Eines Tages kam nach Krasnodar ein Eremit, der hieß Friedrich Pflanzer. Er war in Wetterspott Schuldirektor gewesen. Man hatte ihn verdächtigt, seine Frau erstochen zu haben. Der Prozeß hatte mit einem Freispruch geendet. Auf das Glaubhafteste hatte er dem Gericht zu beteuern vermocht, daß seine Frau das Um und Auf seines Lebens gewesen war, seine größte Sorge daher, sie könnte vor ihm sterben. Tatsache blieb aber, daß die Frau erstochen war, und niemand wußte, wer es getan hatte. 

Der Eremit Friedrich Pflanzer baute sich nicht einmal eine Hütte. Er schlief auf dem nackten Wüstenboden. Des Tags ließ er die Sonne auf sich niederbrennen, ohne daß er sich geschützt hätte. Er aß und trank nichts und lebte noch genau drei Tage, 23 Stunden, 5 Minuten und 13 Sekunden.

Schon wenige Stunden nach seiner Ankunft in Krasnodar kam seine Frau zu ihm. Sie tröstete ihn über Hunger, Durst und Ermattung hinweg, sie strich ihm über Haar und Stirn, wie sie es zu ihren Lebzeiten immer getan hatte. 

So lange seine Stimme noch stark genug war, fragte er sie eins ums andere Mal: Sag, habe ich dich nun erstochen? Und wenn ichs getan habe, warum? Er war nämlich in der Nacht, als sie erstochen wurde, so stark berauscht gewesen, daß er sich an nichts mehr erinnern konnte. Sie aber lächelte eins ums andere Mal bei der Frage und legte einen Finger an den Mund. 

Als er schon nicht mehr gehen konnte und völlig ermattet auf den Bohlen der Brücke des Vergessens lag, flüsterte sie ihm ins Ohr: Weißt du, daß ich dich gehaßt habe, wie nichts auf der Welt? Der Verderber meines Lebens warst du. Keine frohe Stunde hatte ich mit dir.

Dann war es,zuckte ihm noch durchs Hirn, doch ein Selbstmord gewesen, obwohl der Gerichtsmediziner dies völlig ausgeschlossen hatte?

Sie schüttelte den Kopf, als ob sie seine Gedanken lesen könne.

Da starb Friedrich Pflanzer der Eremit. Nichts blieb von ihm als ein schwärzlicher Fleck auf der Brücke des Vergessens. Der einzige Fleck, den sie je trug.

Vom Wesen der Rüben. Erste Näherung.

In Wetterspott trat einst ein Prophet auf, der predigte, alles Unheil komme von den Rüben. 

Aber, hielt man ihm entgegen, wir in Wetterspott bauen doch gar keine Rüben an. 

Darum, entgegnete der Prophet, gibt es ja auch in Wetterspott kein Unheil.

Und wie war das mit der Brücke, die letzte Woche eingestürzt ist und sechzig Leute, Männer, Frauen und Kinder mit sich gerissen hat?

Da es nicht von den Rüben kommt, erklärte der Prophet, schon ein wenig ungeduldig, kann es doch kein Unheil sein!

Da übermannte einen der Hinterbliebenen der Brückenkatastrophe der Zorn und er erschlug ihn mit einem Hammer.

Das ist kein Unheil, waren die letzten Worte des Propheten.

Vinzenz Vogel über den Umgang mit Renegaten. Zweite Variante.

Ein Mann und eine Frau zogen einst von Wetterspott nach Wettergott. Sie hatten in Wetterspott nichts bekommen als Steine und Tränen, daher haßten sie Wetterspott, und da jeder in Wetterspott wieder Wettergott haßte, begannen sie das verhaßte Wettergott zu lieben und dachten: Die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde.

Sie luden ihre Habe auf einen Karren, spannten sich davor und zogen auf der langen Landstraße von Wetterspott nach Wettergott.

Was wollt ihr da?, fragte ein Mann, dem sie am Ortseingang begegneten.

Wir kommen aus Wetterspott, erklärte der Mann, die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde. Wir wollen uns hier ansiedeln.

Wir brauchen keine neuen Siedler. Und schon gar keine aus Wetterspott. Geht dahin zurück, von wo ihr herkommt!

Aber sie zogen weiter auf der Landstraße von Wettergott, klopften an manche Tür, aber niemand tat ihnen auf. 

Wir müssen Geduld haben, sagte da die Frau zum Mann, sie mißtrauen uns zurecht. Selten kommt etwas Gutes aus Wetterspott. 

Ja, sagte der Mann, wir werden uns ihr Vertrauen erwerben.

Bei Anbruch der Dunkelheit fanden sie eine leerstehende Hütte, in der vor vielen Jahren einmal ein Kerzenmacher gehaust hatte, seine Geräte standen noch verkommen herum. Die Hütte richteten sie sich im Laufe der nächsten Woche wohnlich ein. Dann ging der Mann von Haus zu Haus. Er war Schneider und hoffte, Arbeit zu finden. Doch er bekam keine Arbeit. Niemand öffnete ihm, oft wurde er mit Hunden und Steinen verjagt.

Ein paar Tage lang zehrten die Leute von ihren mitgebrachten Vorräten, dann waren auch die zu Ende und sie klaubten Fallobst an den Wegrainen auf und ernährten sich davon.

Dann kam der Winter und sie wußten nicht mehr ein und aus. So beschlossen sie, sich in ihr Bett zu legen und auf den Tod zu warten.

Und dann? Was war dann?

Was soll schon gewesen sein? Halt gestorben sind sie.

Der Mann auf dem Kamin

Der Mann auf dem Kamin erscheint.

Ich sage euch, sprach der Mann auf dem Kamin, ohne Feuer kein Rauch, ohne Wasser kein Bauch, ohne Brüche kein Brauch.

Ich sage euch, sprach der Mann auf dem Kamin, die Welt wird euch schon noch unheimlich genug werden, viel unheimlicher als sie euch heimlich war. 

Ich spreche , begann der Mann auf dem Kamin, vom kommenden Weltuntergang, den viele von euch ja schon mit Neugier und einer gewissen Freude erwarten. 

Es hüllte ihn der Rauch ein, den Mann auf dem Kamin, der dichte schwarze Rauch, wie er aus jenem Kamin zu kommen pflegt, immer um acht Uhr dreißig. Schon bald war der Mann auf dem Kamin nicht mehr zu sehen.

Der Mann auf dem Kamin über die Ehe

Am liebsten, erklärt der Mann auf dem Kamin, wäre mir die Ehe mit einer Frau, die sich vorgenommen hat, mich totzuschlagen. Und ich wäre, setzt der Mann auf dem Kamin fort, auch meinerseits ohne weiteres bereit, ihr dabei zuvorzukommen. Diese Hochzeitsnacht, schließt der Mann auf dem Kamin, gehört zu den Lieblingsgegenständen meiner Träume.

Vinzenz Vogel entdeckt den Mann auf dem Kamin

Er hatte die ganze Nacht durchwandert, und das ohne die geringste Freiwilligkeit, weil seine Wohnungsschlüssel verloren waren. Das Haus gegenüber dem Haus, in dem Vinzenz Vogel wohnte, war schmal, hoch, von einem Kamin gekrönt und an ein weitläufiges Gebäude angebaut, glaublich eine ehemalige Fabrik.

Es war ein winterliches Morgendämmern voll Nebel und Kälte, viele mürrische Menschen begegneten Vinzenz Vogel, und er begegnete ihnen, ein mürrischer Mensch. Da sah er auf dem Kamin einen Mann stehen, der eine Art Kaftan trug oder auch Soutane. 

Der Mann auf dem Kamin war gut zwanzig Meter von Vinzenz Vogel entfernt, er sprach sehr leise, aber Vinzenz Vogel hörte jedes Wort so deutlich, als sei`s ihm ins Ohr geflüstert.

Du bist verrückt, Vinzenz Vogel, sagte der Mann, du bist verrückt, weil du mich siehst, und du bist noch einmal verrückt, weil du mich sprechen hörst. Du kannst davon überzeugt sein, Vinzenz Vogel, sagte der Mann auf dem Kamin, daß mich außer dir kein Mensch sieht, und du kannst davon überzeugt sein, Vinzenz Vogel, daß mich außer dir kein Mensch hört.

Warum stehst du denn da oben?, fragte Vinzenz Vogel nicht ohne Freundlichkeit.

"Ich stehe da oben", erklärte der Mann auf dem Kamin, "weil ich der Mann auf dem Kamin bin. Wäre ich nicht auf dem Kamin, so wäre ich auch nicht der Mann auf dem Kamin. Ist das so schwer zu verstehen?

Und was machst du da oben auf dem Kamin?

Ich stehe. Meine einzige Aufgabe ist es, da oben zu stehen. Und daß ein Verrückter wie du nun weiß, daß er verrückt ist, hat mit meiner Aufgabe nichts zu tun. Das ist ein unerwünschter Nebeneffekt. Übrigens bist du ja der einzige, der mich sieht. Auch ein anderer Verrückter, der hier vorbeikäme, könnte mich nicht sehen. Er könnte vielleicht auch dich nicht sehen und könnte den Kamin nicht sehen.

Sag mir, wenn du so klug bist, du Mann auf dem Kamin, wo ich meinen Wohnungsschlüssel gelassen habe.

Du hast ihn in deiner rechten Jackentasche, da ist ein kleines Loch im Futter, nicht größer als 18 Millimeter, aber das genügte, den Schlüssel durchrutschen zu lassen.

Der Mann auf dem Kamin. Hindernisse der Suizidforschung.

Was, sprach der Mann auf dem Kamin, Vinzenz Vogel, du hast dich ja noch gar nicht umgebracht. Weißt du, Vinzenz Vogel, ich muß mich schon wundern über dich. Du bist ein völlig isolierter Mensch ohne jeglichen Lebenssinn! Und dann hast du eine völlig falsche seelische Konstruktion. Du beziehst alles auf dich und frißt alles in dich hinein. Du bist unfähig, dich abzureagieren. Solche Leute wie du, Vinzenz Vogel, müssen sich umbringen! Schließlich und endlich, du kannst doch nicht die ganze Wissenschaft durcheinander bringen. Die Selbstmordforschung ist doch noch so jung! Sie verkraftet solche Niederlagen noch nicht so einfach.

Ich wollte der Wissenschaft ja gerne den Gefallen tun, sagte Vinzenz Vogel, aber ich bin so feig, und außerde

Wolfgang Fritz: Flatterbusch

Ich hatte einmal eine Arbeitsgruppe zu leiten, deren Aufgabe die Verbesserung der Welt auf einem gewissen, nur einem bescheidenen Teil der Menschheit zugänglichen Gebiet war. Die Mitglieder der Gruppe waren Akademiker, junge Leute, die sich noch keinen Namen gemacht hatten, von Universitätsinstituten und Ministerien entsandt. Ergebnis unserer Arbeit sollte eine Studie sein, ein so genanntes Paper, welches unsere Teilnehmer auf dem Weg zu Ruhm und Macht, ein freilich nur bescheidenes Stück, vorwärts bringen mochte. 

Insgesamt kamen zu den wöchentlichen Sitzungen vielleicht fünfzehn Leute, Männlein und Weiblein, einmal ein paar mehr und einmal ein paar weniger. Wir arbeiteten in einem recht beengten Saal im Dachgeschoß eines innerstädtischen Amtsgebäudes, wo man aber für die Beengung durch einen prächtigen Blick auf die Dächer der umliegenden Häuser entschädigt war.

Unter den Anwesenden war  einer, von dem niemand wusste, woher er kam. Sein Name war, das konnte den Anwesenheitsprotokollen entnommen werden, Daniel Christian Flatterbusch; akademischen Grad oder entsendete Stelle füllte er niemals aus. Das taten auch andere nicht, teils weil sie es für unter ihrer Würde fanden, teils weil sie sich etwa der Tatsache schämten, dass Titel und Stelle nur bescheidener Natur waren. Zu welchen von beiden Flatterbusch gehörte, vermochte ich nicht einzuschätzen; ein bestimmtes Gefühl hielt mich aber davon ab, ihn einfach zu fragen. 

Flatterbusch war ein unauffälliger  Mann mittleren Alters, eher schlank, mit dem Ansatz zu einem Wohlstandsbäuchlein, mit schwarzem, streng nach hinten gekämmtem Haar, und  blassem Gesicht, das von einer mächtigen, ebenfalls schwarzen Hornbrille fast verdeckt wurde. Seine Kleidung war  einfach: grauer Pullover, aus dem ein reiner Hemdkragen hervorschaute, braune Schnürlsamthose und abgetretene hellbraune Halbschuhe.

In den Sitzungen verhielt er sich  unauffällig. Niemals meldete er sich zu Wort, er wirkte aber auch nicht abwesend, folgte den Verhandlungen aufmerksam, wenn auch ohne sich Notizen zu machen, schmunzelte, wenn gelacht wurde und applaudierte, wenn es andere taten. Zu Unterarbeitsgruppen meldete er sich niemals. 

Sein Verhalten war so adäquat, dass unter unseren Teilnehmern bald das Geraune umging, es handle sich um einen ganz wichtigen Vertreter unserer Zunft, etwa einen ausländischen Hochschulprofessor, der unter dem Schutzmantel der Anonymität sich Wissen an der Quelle aneignen wollte. Das war eine Vermutung, die sehr zur Hebung unseres Selbstwertgefühls beitrug und deshalb gern akzeptiert wurde.

Nach einigen Wochen unserer Zusammenarbeit plante ich ein Resümee - alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten sich darüber äußern, wie sie die vorliegenden Ergebnisse vor dem Hintergrund ihres Betätigungsfeldes einschätzten, wozu mich die Neugier beflügelte, was wohl Flatterbusch sagen würde. Insgesamt, so muss ich wohl vorausschicken, waren eben diese Ergebnisse eher bescheiden; viel Lärm und wenig Wolle, wobei wir alle nicht den Mut hatten, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Aber an dem Tag des Resümees war unser Flatterbusch zum ersten Mal abwesend, was mich dazu führte, den Tagesordnungspunkt ausfallen zu lassen.

Als er in der Woche darauf wieder erschien, sagte er entschuldigend in meine Richtung, ohne mich geradezu persönlich anzusprechen: "Für das letzte Mal muss ich mich entschuldigen. Die Grippe." Ich trat auf ihn zu, gab ihm die Hand und vertröstete ihn, was das Versäumnis anbetraf, auf das Protokoll, in dem ja die wichtigsten Verhandlungsergebnisse aufgeführt waren. 

Darauf setzte er sich auf seinen Lieblingsplatz, vor ein Fenster, von dem aus man sogar ein Zipfelchen vom Dom sehen konnte, während für mich, der ich im Vorsitz saß, die Gesichter der hier Installierten wegen des einflutenden Lichtes fast unerkennbar waren.

Nun gab also jeder sein markiges Statement zum Besten, in beliebiger Reihenfolge, sodass Flatterbusch als Letzter verblieb. „Ich,“ sagte er, „bin nur ein kleiner Angestellter, ohne jegliche Qualifikation." Damit schwieg er und auch die anderen schwiegen, und ich hatte keine Lust mehr, das Resümee meinerseits zusammenzufassen und ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über.

Von nun an kam er nicht mehr. Eines Tages aber, das Paper war schon längst fertig und harrte noch immer der Veröffentlichung, weil es Schwierigkeiten mit den Subventionen gab, bekam ich eine Parte: Herr Christian Daniel Flatterbusch, kaufmännischer Angestellter, sei im 44. Lebensjahr nach langem, schwerem Leiden verstorben. Unterzeichnet war sie von der Gattin und den drei Kindern. 

Ich nahm mir  vor, zur Beerdigung zu gehen, dachte sogar daran, am offenen Grab zu sprechen. Sozusagen ein Vertreter der schweigenden Mehrheit der Unakademischen und Machtlosen sei uns Flatterbusch gewesen, ungezeichnetes Stammholz, mit Gottfried Keller zu reden, im Walde der Nation, einfacher Steuerzahler, einer der Finanziers der Bedeutenden. Welchen Nutzen er aus unseren Beratungen ziehen habe können? Vielleicht die Erkenntnis, dass unsereiner auch nur mit Wasser kocht, und von den gleichen kleinlichen Leidenschaften beherrscht ist, wie sie auch die Unerheblichen leiten. Das sei schon etwas wert.

Leider habe ich aber den Termin schließlich völlig vergessen. 

Der Wettermann

Die Flammen loderten den Kamin hinauf.

Der Wettermann stand davor

und rieb sich die Hände.


Der Wettermann  trug einen Wetterfleck

Der Wettermann trug einen Schlapphut,

Der Wettermann trug klobiges Schuhwerk.


Lieber, sagte der Wettermann,

den Stein aufheben

als über den Stein stolpern.


Lieber, sagte der Wettermann,

über den Stein springen

als den Stein aufheben.


Ihr wisst ja nicht,

sagte der Wettermann,

was noch alles auf euch zukommt.


Wir standen hinter dem Wettermann,

der uns mit seiner breiten Gestalt

am Genuss des Feuers hinderte.


Wie wäre es, fragte Frieda

und fasste ihn am Arm,

wenn Sie zur Seite rückten?


Da drehte sich der Wettermann um

verließ wortlos den Raum.

Und gesellte sich zum Wetter.

Fundsach

Sie soll sich sofort melden!

In das Rondell-Cafe in der Opernpassage, wo alle Tische entlang einer kreisförmigen Glaswand angebracht sind, sodaß man sich, indem man sitzt und konsumiert , das Treiben da draußen in aller Ruhe betrachten kann, bin ich lange nicht mehr gekommen.

Seinerzeit, als ich neu in Wien war, und mich Leute besuchen kamen, die sich in Wien noch weniger auskannten als ich, da habe ich mich oft in diesem Cafe vereinbart. Weil es doch so leicht zu finden ist..

Bisweilen bin auch ich sentimental. Dann gehe ich nach vielen Jahren Wien, da mir die Stadt wenn nicht Heimat so doch vertrauteste Fremde geworden ist, gerne an einen solchen Platz, der mit meinen Anfängen zusammenhängt, mit hochgemuten Erwartungen und glitzernden Illusionen.

Sitzen da am Nachbartisch drei junge Leute, eine Uschi, ein Peter, ein Karlheinz, gekleidet in Jeans und Parkas, trinken Cola, reden aufgeregt aufeinander ein.

"Und die NN vom Fernsehen", berichtet Peter, mit noch ungebrochenem Kärntner Akzent, "hat mir am Telefon gesagt, sie soll sich sofort melden, damit man Probeaufnahmen mit ihr machen kann."

Ja, sofort! Was wird wohl daraus werden, eine große Karrriere, eine verlorene Illusion? Oder beides gleichzeitig, oder keins von beiden?"


Ein Mann für sich allein.

Beim Eduscho am Graben. An einem der runden Tischchen steht ein Mann für sich allein. Er hat wohl eine furchtbare Krankheit gerade überstanden, und nun versucht er, ins Leben zurückzukehren. Es muß ihm gelingen, die Kaffeetasse an den Mund zu führen, ohne vom Kaffee zu verschütten. Er versucht, verliert auf geringer Höhe den Mut, stellt sie wieder ab. Ein neuer Versuch. Diesmal bringt er die Schale nicht genau auf die Untertasse, verschüttet ein wenig. Ein dritter Versuch, er kommt ganz nahe an seinen Mund, doch nun zittert seine Hand ganz erbärmlich, er verschüttet einen Gutteil. Und sein Gesicht, welche Leidenschaft, welche Sorge! Läßt er nun den Rest Kaffee stehen und geht?

Eine Weile schaut's danach aus. Dann gibt er sich einen letzten Schwung und diesmal schafft er es. Er leert seine Schale, stellt sie ab, trifft gar die Untertasse, geht ab. Ein Sieger.


Von jeder Sorte.

Auf der Alserstraße: Er schaut aus wie: "Wo rohe Kräfte sinnlos walten...", groß,breit, mit einem brutalen Zug um den Mund, redet auch bisweilen mit sich selbst,  geht auf Leute zu, die ihm in die Augen schauen. Die suchen dann eilfertig das Weite.

Einmal komme ich im Supermarkt an der Kasse hinter ihm zu warten. Er hat den ganzen Wagen voll mit Katzenfutter gepackt. Von jeder Sorte. Für sich hat er gar nichts in dem Wagen. Zweihundert Schilling zieht er aus seiner Hosentasche. Er macht sich Sorgen, ob das Geld auch reicht. Versucht, es im Kopf auszurechnen, sortiert die Päckchen aus, auf die er etwa verzichten könnte. Es macht 197 Schilling 20 , und er darf alles mit nach Hause nehmen.


 "Bitte..."

Wieder in der Alserstraße, vor meiner Haustür, ich taste gerade meine Taschen nach dem Hausschlüssel ab. Ein Mann kommt auf mich zu, knochendürr, von einer graugelben Blässe, zitternd am ganzen Leib. "Bitte...", flüstert er, und ich ziehe mich, tief erschrocken, hinter die sichere Haustür zurück.


Und nicht nur auf sie.

In Innsbruck, vor dem Hauptbahnhof. Ich nähere mich der Gepäckaufbewahrung, da höre ich lautes Singen. Zwei kommen anmarschiert; ein Bursch, groß, verwahrlost, mit schwarzem Bart und wirr abstehendem schwarzen Haar. Bei ihm hat sich eine kleine, spindeldürre alte Frau eingehängt. Begeistert singen sie: "Jetzt trink ma no a Flascherl Wein, hollodero". Sie sind betrunken, ihre Augen glänzen. Es ist eine Demonstration. Jetzt, im Augenblick, sind sie stolz auf sich und ihr Leben, und sie bekennen sich dazu. Der Abgrund kann warten. Und nicht nur auf sie.


Eine auffallend blasse junge Frau

Ein Freitagmorgen im November. Ich sitze im City-Bus der Linie 1 a, einem der großen, nicht der kleinen, rechts, gleich in der Bank nach dem Mittelausstieg, links vor mir sitzt eine Frau. Ich kann nicht sehen, was sie tut. Plötzlich, etwa auf der Höhe der Teinfaltstraße, fängt ein Mann an zu schreien: "Wissen Sie, daß das, was Sie da tun, verboten ist?" Die Frau antwortet so etwas wie "nein" oder "warum denn?"

"Was wäre denn, bohrt der Mann weiter, wenn eine Kontrolle kommt, oder wenn ein Unfall ist?"

Der Frau wird es zu viel, sie steht auf und geht. Es ist eine auffallend blaße, junge Frau, eine Küchenhilfskraft oder Aufwärterin.. Sie steigt auf der Freyung aus. Ich sehe sie vom Bus aus über den Platz staksen, mit Stiefeln, die ihr nicht passen. Die Füsse reichen nicht bis zu den Sohlen, das gibt so einen eiernden Gang.

Ich schaue dem Mann in die Augen. Zwischen Fünfzig und sechzig mag er sein. Ein zufriedenes Kleinbürgergesicht. Trägt eine riesige schwarze Pelzmütze auf dem Kopf, hat einen Anorak an und weiße Leinenhosen. Eine seltsame Kombination zwischen Sommer- und Winterkleidung. Er erwidert ruhig meinen Blick. Ist er stolz darauf, sich als selbsternannter Polizist erfolgreich betätigt zu haben oder dichte ich das nur in ihn hinein? Und ich würde ihn doch so gerne fragen, was nun die junge Frau wirklich getan hat.


Ich weiß nicht, was Sie wollen.

In der "Nordsee". Eine überaus dicke junge Frau drängt sich zwischen den um Fisch Schlange Stehenden durch:

"Der is jo roh. Der Fiesch is jo roh!"

Der Geschäftsführer nimmt ihr ihren Fisch ab, um ihn noch einmal zu frittieren.

"Der woa jo roh", sagt die überaus dicke junge Frau zu dem Mann, der bei ihr am Tische sitzt. "Der woa jo roh."

Der Mann an ihrem Tisch grinst nur ein bißchen, sagt aber gar nichts.

Nach einer Weile bekommt sie ihren Fisch, ordentlich durchfrittiert wieder.

"Das kann ja jedem einmal passieren. Is mir a schon passiert", erklärt sie dem Nachbarn, der bei ihr am Tische sitzt.

Der grinst nur ein bißchen, sagt aber gar nichts.

Bevor sie geht, geht sie noch einmal zum Tresen, der jetzt ganz leer ist, und erklärt  der Bedienung: "Das kann ja jedem einmal passieren. Is mir a schon passiert."

"Ich weiß nicht, was Sie wollen", sagt die Bedienung.


"Du dreckats Hurenbankert"

Ein Novembermittag in der Ballgasse, vor dem Cafe Ball. Eine Stimme , weiblich, in höchster Erregung:

"Du dreckats Hurenbankert! Da an Verstärker einbauen ins Haus. Und die Rotzn..."

Eine resignierte Männerstimme: "Geh, schleich di!"

Und wieder: "Du dreckats Hurenbankert! Du dreckats Hurenbankert!" Zwei Leute kommen die Gasse herauf, unbeteiligt. Die Stimme muß aus einem Haus kommen. Und so ein schöner, altmodischer Schimpfausdruck.

 Neugier ist unstatthaft. Ich gehe ins Lokal, so gerne ich noch zugehört hätte.

Im vergangenen Sommer , ich bin mit Freunden im Schanigarten vor dem Lokal gesessen, ist einmal ein Riese gekommen, mit nacktem Oberkörper,  tätowiert, schwer betrunken, eine fast geleerte Weinflasche in der Hand, der auch so furchtbar geschrien hat. Mit mächtiger Stimme, die wie aus einem gewaltigen Faß kam. Einer Stimme mit der Armosphäre Sklavenaufstand in Haiti.  Aber ganz unartikuliert. Allon, der Wirt, hat ihm mit soviel sichtbarem Verständnis zugehört, daß er ohne weiteres von ihm gelassen hat. Er geht an unserem Tisch vorbei, die Gasse hinunter. Niemand traut sich aufzusehen. Dann kehrt er um und geht direkt auf unseren Tisch zu.Gerade daß wir uns nicht unter den Tisch werfen.

"Gebts ma a Feia", sagt er.

Später sitzt er beim Gasseneingang mitten auf der Straße, zwei Polizisten versuchen, über Funk etwas über ihn zu erfahren.

""I hob an Hunga", sagt er.


"Warum konnte diese Liebe nur zu Ende gehen?"

Ein Samstagmorgen Ende September. Schon um fünf Uhr bin ich aufgewacht. Um sechs Uhr ist kein Denken mehr an Schlafen. Ich sollte heute ins Büro gehen und einiges für die Tschechen vorbereiten. Das ganze Haus ist voll Verwandten, nicht einmal zu meinen Kleidern kann ich. Aber vor dem Bett liegt ja noch mein gestriges Gewand.

Ich habe keine Lust, in der Küche herumzupatzen. Irgendwo auf dem Weg von der Alserstraße in die Himmelpfortgasse wird es schon eine offene Bäckerei geben.

Vor dem Weggehen werfe ich einen Blick auf die schlafende Frau, das schlafende KInd. Sie bemerken nichts von allem, und werden mein Bett leer finden, wenn sie aufwachen.

Es ist ganz unwahrscheinlich warm und dunstig draußen, ein extremer Altweibersommer. Über die Straße kommen mir zwei junge Exotinnen entgegen. Neugierig betrachte ich alle Leute auf der Straße, als stünde ihnen das, was sie so früh wie mich aus dem Bett getrieben hat, auf der Stirn geschrieben. Ich selbst fühle mich etwas abgeschmiert mit meinen einen Tag alten Kleidern, obwohl es sich hier wohl um eine Reinlichkeitsmarotte handelt; fast wie einer, der die Nacht auf den Beinen verbracht hat.

In der Schottenpassage, dort wo immer die Sandler sitzen, vor all denStraßenbahnlinien in Richtung 18. und 19. Bezirk sitzt eine ältere Dame, gut gekleidet, graue Pagenfrisur, neben sich eine Likörflasche. Und sie singt, daß es durch die ganze Passage hallt:

"Warum konnte diese Liebe nur zu Ende gehen?"

Der Marsch hat meinen Frühstückshunger sehr gesteigert,aber es ist noch zu früh für jede Bäckerei.  ich beginne schon zu fürchten, daß ich ungelabt im Büro ankommen werde.

Bei der Aida beim Stock im Eisen ist es gerade sieben. Die ersten Frühstücksgäste kommen schon. Solide Morgengestalten, gut gewaschen.

Familie und Kindheit

Fritz Stüber wurde am 22. März 1872 in der damaligen Gemeinde Gaudenzdorf, seit 1890 ein Teil des 12. Wiener Gemeindebezirkes,  geboren. Sein aus Walterskirchen bei Poysdorf stammender gleichnamiger Vater hatte Geistlicher werden sollen, war aber noch vor  dem Empfang der Weihen nach Wien geflohen. „Von seinen Eltern verstoßen und verflucht, ohne einen Kreuzer im Sack, so langte er nach tagelangen Märschen in der Hauptstadt an. Als Marktgänger, Botengänger, Hilfsarbeiter fristete er sein Leben“, ehe es ihm gelang, im Rechnungsdienst der Finanzverwaltung unterzukommen. Mit 26 Jahren heiratete er die Tochter eines aus Bayern stammenden Wiener Germhändlers.  Ein Urgroßvater unseres Fritz Stüber betätigte sich als Statist. Er durfte den Knieriem im Lumpazivagabundus vertreten, weil seinem wahren Darsteller, dem berühmten Scholz, das Warten darauf, bis er endlich zur Hölle fahren durfte, zu langweilig war. 


Gaudenzdorf, der Heimatort des kleinen Fritz, hatte damals noch viel Ländliches an sich. Wenn auch die Industrialisierung bereits ihre Spuren hinterlassen hatte, gab es noch freie Wiesenfläche und auch das Wienflüsschen war idyllisch unreguliert, sogar Pferde wurden dort noch zur Tränke geführt. Das Kind wuchs also ländlich auf, es durfte mit der Großmutter zur Rorate gehen, welche im Dialekt als die Uradl bezeichnet wurde. Weil er ein solches Zarterl war, musste er seinen Schwimmunterricht, ausgerüstet mit einem Mädchenschwimmkostüm mit Spitzen und Falbeln, bei den Mädchen nehmen, wobei er, worüber er sich sehr schämte,  als Fräulein Fritzi eingeführt wurde.  Seinen Mittelschulunterricht genoss er im Wiedener Gymnasium. Sein literarischer Talent fiel erstmals auf, als er einen Aufsatz über die Geschichte eines Baumes schreiben musste, wofür er sich eine alte Eiche auf dem Schönbrunner Gloriettehügel aussuchte. Er erhielt dafür viel Lob von                                                                                                                                                                       seinem Professor, aber auch die Kränkung durch einen Mitschüler, der behauptete, der kleine Fritz habe dies aus einem Buch abgeschrieben. Die sehr geliebte Mutter verlor Stüber schon als Neunzehnjähriger.


Im Rechnungsdienst

Nach dem Besuch des Gymnasiums weigerte sich sein Vater, ihn studieren zu lassen, obwohl er über die Mittel dazu verfügte,  und der Bub musste, wie dieser, sich mit dem Rechnungsdienst begnügen. Der Rechnungsdienst, das war eine in materieller wie geistiger Hinsicht bescheidene Tätigkeit, und man musste sich schon fragen, wozu man nun Latein und Altgriechisch, Mathematik und Literatur gelernt hatte, nur um dann Zahlen in Blätter einzutragen und zusammenzurechnen.  


Wie es einem als dichtender Rechnungsbeamter so ergeht, das hat Stüber  in seinem Roman „Rappelkopf“, verarbeitet.  Dort lässt er den 42-jährigen Rechnungsoffizial der niederösterreichischen Provinzialstadtbuchhaltung in Wien, Herrn Joseph Alois Gleich auftreten, der eines Nachmittags mit dem jammervollen Ausruf: „Ach Gott, ach Gott, wenn ich nur schon in Pension gehen könnte’“ seine Wohnung betritt, und seine recht resolute Frau mit Klagen und Beschwerden überhäuft. Wo es recht was Z’widres zum erledigen gab, teilte es der Herr Rechnungsrat ihm zu und die faulen Kollegen lachten sich ins Fäustchen. Und das, obwohl er doch ein Schriftsteller  war, dessen Namen Klang hatte. Aber darauf wurde keine Rücksicht genommen. Wenn aber einmal eine Remuneration ausgeteilt wurde, fiel keinem der Gleich ein. Da kam der schäbigste Praktikant eher dran. Und wenn er sich beschwerte, so hieß es: „Mein lieber Herr Offizial, Ihre außeramtlichen Verdienste in Ehren, aber schließlich müssen wir doch die zuerst berücksichtigen, die sich ihre Verdienste im Amt erworben haben.“ Schließlich müsse er doch nicht auf die schäbigen paar Gulden anstehen, er habe doch ganz andere Ressourcen. Ja, Schnecken, meinte Gleich zu seiner Frau, bei die Schandhonorare, was die Herren Verleger und die Herren Direktoren zahlen, könnt man Tag und Nacht fortschreiben, bis einem das Blut unter die Nägeln außerspritzt und käm doch niemals auf einen grünen Zweig.“ Aber im Gegensatz zu seinem armen Gleich machte Stüber selber bescheidene Karriere an seinem Arbeitsplatz. Zuletzt war er, wie sein Vater,  Oberrechnungsrat, und zwar im Fach-Rechnungs-Departement IV der General-Direktion der Tabakregie, welches in dem schönen Gebäude in der Porzellangasse 51 untergebracht war, dessen Beschreibung durch Heimito von Doderer in seiner „Strudelhofstiege“ zur Unsterblichkeit gelangt ist. 1922 nützte er die durch die Genfer Sanierung gebotene Gelegenheit, sich abbauen zu lassen. Aber, Ironie des Schicksals, kurz darauf war er tot. Ein Schlaganfall hat ihn hinweggerafft.


Die Wiener Skizze

Wenn Stüber auch seine eventuell vorhandenen juristischen Fähigkeiten nicht auszuleben vermochte, so konnte er sein beachtliches literarisches Talent doch einigermaßen entfalten. Er hat in seinem kurzen Leben vier Romane und ein paar Theaterstücke geschrieben, er ist aber mit ihnen nicht durchgedrungen, das hatte er sich insoweit selber zuzuschreiben, als er mit seinen Wiener Skizzen, in denen er mit Ironie und Sarkasmus das Leben der Wienerinnen und Wiener schilderte, und die er auch meisterhaft vorzutragen wusste, bald punziert war. Was anderes wollte man von ihm dann nicht mehr hören. 


Die Wiener Skizze hat er nicht erfunden. Sie war eine gut eingeführte Literaturgattung, ihre bisherigen Meister Friedrich Schlögl (1821-1892), Eduard Pötzl (1851-1914), Schöpfer des Herrn Nigerl und des Herrn Gigerl,  oder Vinzenz Chiavacci (1847-1916), der Erfinder des Adabei und des Sopherl vom Naschmarkt.


Wie die seiner Kollegen  erschienen Stübers humorvollen Kurzgeschichten zunächst in der Zeitung, und zwar bei ihm im Feuilleton des Neuen Wiener Tagblatts, der im Steyrermühl-Verlag erscheinenden,  damals meistgelesenen Wiener Zeitung und der im selben Verlag erscheinenden Volkszeitung, und zwar zunächst unter dem Pseudonym F.St.Gunther, den er, erfolgreicher geworden, mit seinem bürgerlichen Namen zu „Fritz Stüber-Gunther“ zusammenzog. 


Seine Wiener Skizzen waren auch in der offiziellen Literatur sehr erfolgreich und wurden dann auch in Buchform veröffentlicht. 1910 erhielt Stüber den renommierten Bauernfeld-Preis, den auch Arthur Schnitzler und Hermann Hesse erhalten hatten. 


Stübers Privatleben

Stüber war glücklich mit seiner Frau Luise verheiratet und er hatte einen gleichnamigen Sohn, der sich, lang nach des Vaters Tod, in der Politik einen wenig rühmlichen Namen machen sollte. Seine Frau kommt verschiedentlich in seinen Geschichten vor, so in der Geschichte Wohnungsuchen, wo die Frau Offizial  ihre Wohnung auf Verdacht, kündigt, nur dass sicher bald eine neue kommt. Die neue ist dann schlechter als die alte.  Oder sie stellt eine unerfahrene Haushaltshilfe ein, die sie selber anlernen will, weil ihr die erfahrenen zu raffiniert sind. Natürlich stellt sich die Unschuld vom Lande als die Gerissenste heraus. 


Sich selber lässt er auch nicht besser wegkommen. So geht er mit seiner Frau auf Sommerfrische ins Salzburgische und kann sich nicht dazu aufraffen, den bequemen Lehnstuhl in seinem Fremdenzimmer, eh mit Blick auf das Tennengebirge, zu verlassen.  „Ob ich mich denn nicht schäme, derart zu faulenzen? Gewiss nicht, Verehrteste. Solche Scham ist meinem Herzen fremd.“ 


Ein zufriedener Mensch war Stüber nicht. Er litt unter seinem Brotberuf, unter seiner andauernden Kränklichkeit, insbesondere der Darm machte ihm zu schaffen.  Er laborierte auch, an einer lebenslänglichen schweren Depression; das bezeichnete man damals mehr als Schwermut oder Melancholie. In seinem  letzten Roman, Rappelkopf, erschienen in seinem Todesjahr 1922 in der Wiener Literarischen Anstalt, beschrieb er  das Leben eines Gleichgearteten, nämlich  des Dramatikers und Schauspielers Ferdinand Raimund.  


Tod und Nachleben

Stüber wurde zunächst auf dem Meidlinger Friedhof begraben, erhielt aber am 22. November 1922 von der Stadt Wien ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 0, Reihe 1, Nummer 95), zusätzlich wurde eine Gasse im zwölften Wiener Gemeindebezirk nach ihm benannt (Stüber-Gunther-Gasse). 1924 wurde eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus in der Arndtstraße 82 angebracht. Sein Porträtmedaillon befindet sich auf dem Meidlinger Künstler-Gedenkstein von Fritz Hänlein aus dem Jahre 1926 im Theresienbadpark. Im übrigen sind er und seine Werke aber vergessen. Schad drum, muss man sagen, wenn man sich ein bisschen damit befasst hat.

Die Haediliade

welches ist ein gar kurzweilig Lesen von Haedilia, der kühnen Scaevocuratin, wie sie hinauszog in alle Welt, um die Kunst des rechten Wirtschaftens zu lernen und zu lehren, und wie sie, nach langen und mühsamen Fahrten endlich zurückkam, um mit ihren alten Freunden ein Fest zu feiern.


Singe, o Muse, den Zauber der Stunde, als in Noricums verschlafenen

Gauen die Röte des Magnusschen Morgens erschien.

Groß waren damals die Pläne des Kaisers,  Magnus des Guten,

Wachsen sollte die Wirtschaft vom Staate verlässlich geleitet.

Blühen sollte und fröhlich gedeihen das ärmliche Volk.

Gänzlich befreit sollt’ es sein von der Eltern  oft grimmiger Not. Die

Kinder sollten erhalten die besten der Schulen, Arbeit und

Brot sollte jedem stets stehen bereit, und Ärzte in reichlicher

Zahl sollten heilen jedermanns Pein ohne Ansehn der Kosten. Die

Alten sollten von Sorge befreit zu hohen Tagen

kommen und diese gesund und heiter genießen. Die Mittel für

all diese Taten mussten gewaltige sein.  Doch die, in

alter Gewohnheit, hatte beizustellen des Kaisers Schatzamt zur

Himmlischen Pforte, in Vindobonas, des Reiches Hauptstadt

Mitte lieblich gelegen, ein Prachtschloss,  erbaut von dem größten

Helden den je gesehen die Stadt, zu seiner Verwendung.

Abgekauft dann seiner Nichte zu Zwecken der Schätze des Staates.

Levis, den jüngsten der dafür in Frage kommenden Ritter,

schön und furchtlos, wie er halt war,  betraute Magnus

darüber zu herrschen und also zu sehen, dass Geld in reichlichem

Ausmaß immer  hereinkam. Eine seltsame Wahl; gehörte doch

Levis zum Orden der listigen Magier, die Mittel wussten

gegen des Fiscus gierigen Griff.


Es gab nun aber

im Reich einen Orden gewichtiger Weiser, welche, bewandert in allen

Fragen der richtigen Wirtschaft, jetzt seine Stunde sah gleichfalls ge-

kommen. Die Scaevocuraten, so hieß der Orden, waren würdige

Männer meist, mit grauen, stachligen Bärten ohne

Sinn für die eleganten Seiten des Lebens, und wohl unter-

richtete Frauen, eine Geschwisterschaft, verbreitet

weit über alle Flächen der Erde, in stetem Gedenken an

kühne Helden, die einst den Orden begründet, wie Kehnsius,

welcher Methoden hatte entdeckt, wie der Staat mit kundiger

Leitung der Schätze der Kammer Wohlstand konnte verbreiten und

Wachstum wo immer er wollte: Ein Zauberer von unvorstellbarer Kraft.


Nun singe, o Muse, den Zorn dieser wackeren Scaevocuraten,

die sich die Herrschaft über die Himmlische Pforte sicher erhofften, wo

schalten würde und walten der Wissenschaft herrlicher Geist, und das

tiefste Geheimnis aller Magie, als  Levis, der Kühne,

ihnen den Zugang einfach verwehrte.  Ein schneidiger Jüngling, voll

Ehrgeiz, war er nicht bereit zu teilen die Macht mit wem immer. Da

hielt er’s schon lieber mit den alten schwarzen Gesellen, den

Rittern der Himmlischen Pforte, die krumm schon vom ewigen Ritt auf

immer denselben kantigen  Paragraphen, doch geübt und, freiwillig

nicht zum Abgang gewillt, noch saßen in ihren Sätteln


Wenige  nur von den Scaevocuraten durften die Schwelle des

Tempels der himmlischen Pforte doch übersteigen, wo sie

missmutig trübe Kammern behausend und selten gefragt

lange Jahre ein kümmerlich Dasein schmollend erlitten.

Eine von diesen, Haedilia war’s, aus Noricum Altum,

die vieles studierte, erforschte und  manches Treffliche schrieb,

so eine Arbeit über einen gar menschenfreundlichen Denker,

Der, nach grässlichem Kriege, lang ist’s her,  diente als

Herr der himmlischen Pforte und viele Maßnahmen klüglich er-

dachte doch scheitert mit allen in der wirren, verworrenen Zeit.


Haedilia war  eine kluge, stets bescheidene Kämpin

Nichts um sich herzumachen, war ihre erste Maxime.

Wer sie nicht kannte, hätte die Freundliche leicht unterschätzt. Nicht

länger wollte sie harren nach langen kärglichen Jahren in

finsterer Kammer. Sie machte sich auf, dorthin, wo in unvor-

stellbarer Ferne, in der Hauptstadt des mächtigsten Reiches, das jemals die

Menschheit gesehen, des Reiches nämlich der Braven, die Burgen

standen, mit deren Errichtung einst Keensius, der Gründer des Ordens be-

endet die Reihe seiner gewaltigen Taten. In diesen und mit

Hilfe des sagenumwobenen Schatzes der Festung von Noctis,

hatte beherrscht das Reich der Braven alle Wirtschaft des Erdrunds.

Leer doch waren  die Speicher als Haedilia ankam und die Regale.

Was war zu tun als zu schütteln den ratlos brummenden Kopf?


Da trat nun ein anderer Orden zurück an das Licht des Tages, der

- mächtig einst – nun lange machtlos in vergessenen Höhlen

hatte gehaust, die Dextrocuraten warens, die ihren Ursprung einst

hatten gehabt in Vindobona, der herrlichen Stadt und von dort ge-

wandert waren in alle Städte der Welt.  Und einer von

jenen ursprünglichen Geistern noch lebte, Hajus der Zähe, ein

Greis von beträchtlichem Alter.  Zum Sklaven, so lehrt er, macht

alles, was ausgehe vom Staat, in Armut führt es und Elend.

Furchtbar daher die Lehre der Scaevocuraten, nicht besser

gar als das finstere Gesetz, das zusammenhalte das grässliche

Reich der Schlimmen, ersonnen von Marcus einem finstren Dämonen, mit ge

-waltigem Bart. Seis da nicht besser, jenen die Wirtschaft zu

lassen,  die kundig in Handel und Wandel eh wussten, was tun? Und der

Staat, der erfolglos so lange versuchte, die Märkte zu steuern, zog sich ge-

mütlich zurück. Groß war der Beifall, den Hajus bei solcher

Rede auf allen Märkten erhielt. Mehr noch, seine Freunde und

Schüler bestiegen in vielen Ländern den Thron. Ra-

ganus zum Beispiel, der früher auf Märkten im Westen selbst machte den

Hanswurst und Taceria, eines Greißlers Tochter aus England.


Schaudernd vor solcher Lehre verließ Haedilia, die rechten

Glaubens stets war, die Hauptstadt des Reiches der Braven und kehrte  in der

Heimat schöne Gefilde zurück. Doch nichts anderes fand sie

hier als sie dort in der Ferne gesehn. Leer waren die eisenbeschlagenen Truhen und zu wenig

trugen die Steuern,  Dank der Listen der Magier, welche das Zauberwort

wussten zum Schutz vor des Fiskus finsterem Blick. Und viele der

herrlichen Gaben, die Magnus der Gute dem Volke bereitet,

musst’ er nun zahlen mit Schulden bei zinsengierigen Gnomen. Doch

 weiter zu wandeln auf Wegen des wirklichen Wohls war Magnus

trotzdem entschlossen, als Levis, der selber gierte nach dessen ge-

waltigem Thron, ihm fiel in den rüstigen Arm. Um den Staatsschatz

ging es der ruhte, von grimmigen Drachen jede Sekunde bewacht im

Keller eines eignen Palasts, zu dem niemand Zugang

gebührte. Magnus nun meinte, man könne  mit all den Münzen

Besseres tun als sie tief im Gewölbe verstauben zu lassen. Doch

Levis beharrte, sie müssten da unten sein und er siegte. Doch

kurz war sein Glück. Denn Magnus verlangte den Levis zu strafen für

Frevel geübt in der Zeit seiner Herrschaft, wovon er heimlich

Kunde erhielt. So stürzte er Levis. Ver-

lassen musst’ er das Haus der Himmlischen Pforte verbannt und verstoßen.


Statt ihm kam Suffio, ein freundlichen Rhäter und

gerne gelitten weitum  mit seinem hübschen Akzent, doch auch

er ein furchtloser Recke, der grad noch versucht, einem

grauenhaft grimmigen Teufel, den Garaus zu machen, der viel

Schaden hatte gestiftet landauf, landab doch bei Levis war

trotzdem nicht übel gelitten, weil er viel Gulden pflegte zu

spenden dem Hausherrn aus seiner sonst geifernd bewachten Truhe.

Nikotius hieß er. Suffio aber ließ ab nun von jenem

minderen Teufel. Denn er traute sich zu, ein wahrhaft

wackerer Haudrauf, Größres als je ein Kämpe es hatte ge-

wagt, nämlich zu wenden das Schicksal von Magnusens hehrem Be

-ginnen und doch noch herbeizuführen sein freundliches Reich. Und

statt nun die Reichen zu schonen in der trughaften Hoffnung, sie würden von

selber sich dann als splendabel erweisen, wollt’ er mit mutigen

Taten sie zwingen dem Kaiser zu geben, was diesem gebührte.


Das war sein Plan. Und ihm zu helfen, lud er nun freundlich das

lange verschmähte Volk der Scaevocuraten in die Himmelpfortburg.

So hielten sie Einzug: Sparsus mit wollener Mütze, ein Recke,

genial und auch ein bisschen verschroben. Er  führte die mutige

Schar und Ater, sein Knappe, hatte zu sehen, dass er im

Sinnen  sich die Hosentür nicht zu schließen vergaß.


Nun auch kamen  zu Ehren, jene, die Levis schmachten

ließ in spinnenumhangener Stube: Haedilia und Probus, ihr

treuer Gefährte, ein Rhäter auch er wie sein Herr aus fernem Ge-

birg herabgestiegen ins Tal und ein Genius der Zahlen. Nun

wurden sie alle  aus staubiger Kammer geleitet  und aufge

nommen in der Ritter des Hauses treue und schwärzliche  Schar. Mit

wenig Freude sahen’s die lange erprobten Männer der

Runde, denen den ferneren Aufstieg ihnen zu stören

jene nun drohten. Junge doch auch, welche Gelegenheit

sahen, den langen Jahren auf harten Wartebänken vor den

Zimmern des Rates nun rasch zu entkommen, gesellten sich nunmehr zu

ihnen: wie  Sanctus, der Sohn eines gewes’nen Herrn

dieses Hauses, eines besonders schwarzen Gesellen und trotzdem

flammend rot war sein Sohn.  Umgekehrt der Campanus,

Großneffe eines der roten Heroen von einst. Spross also

eines glänzenden Namens, von dem er so manchen Nutzen sich

hatte erhofft, doch  Levis hatte auf solches niemals

geachtet, und lieber Montanus vertraut, einem Diener verschiedenster

Herrn. Da war auch Pampinus, der Schlaukopf, der Lange und gut in

Demut Geübte, einst schwärzlich doch nun der roten

Farbe eher geneigt, ein Freund des Weins und des rauen

Gesangs unter Männern. Sie alle scharten sich freudig und voll

Hoffnung um den endlich neu erkorenen Herrn.

Andere wieder brachte Suffio mit aus seinem

Trosse wie Bonus einer rhätischen Gastwirtin Kind, einen Burschen mit

reichlichem Haarwuchs und stets zu lang waren ihm die feierlich

schwarzen Hosen. Auch nicht zu vergessen, Ponticel, ein Diener aus

Suffios Tempel, gewaltig an Umfang des Leibes und so auch des

Kopfes. Mit ihm kam auch Flava von des Staatsschatzes mutigen Hütern, eine

liebliche Maid. Und andere zog er nach sich, die gerne er

hätte entbehrt, doch missen nicht durfte als Kinder rhätischer Freunde:

 Potatrix, die Kinder hatte gelehrt im Rechnen und Buchen und

Pax, einen Dichter, für beide so Suffio, sei eigentlich keine Verwendung.


Gerne gedenkt, wer damals sich sammelte unter den Gästen,

Wie sie alle, des Suffio treu verwegene Schar

Saßen in des Kellers tiefstem der tiefen Gewölbe

Wo die Mönche kundig die Biere hatten gebraut

Tranken und scherzten und hofften, dass er gelänge, der Plan.


Andere aber, die grade noch Levis in Treue hatten ge-

dient, wie Corulus, dem ein seltnes Geschick die gleiche Gestalt

hatte gegeben wie Levis, und dessen Anblick

Suffio deshalb nicht gerne ertrug. Auch Montanus, ein lange

erprobter Diener der Herren des Hauses, dem Suffio nun nahm

nahezu jegliche Macht und sie gab dem Campanus. Schließlich

Humanus, des Levis einer der treuesten Diener, der es nicht

wagte, das ihm einst so gastliche Haus nun einzutauschen

gegen die Fremde und immer noch saß auf altem Schreibtisch doch von

niemand gefragt. Sie alle  nun tranken der Ungnade  bitteres Maß


Groß war der Hass auch im Haus zwischen den Freunden des Suffio und

jenen des Levis. Das ging hin bis zu seiner Festung

fernerem Vorwerk, das Pictor, ein Freund des Levis, hatte geleitet.

Suffio verlangte, ihn dort  sogleich zu entfernen, und weil

er auf niemand vertraute sosehr wie Haedilia, die zudem

über Geschäfte war gut unterrichtet von häuslichem Herd, sollte

die nun an Stelle treten des Pictor, zumindest für einige

Zeit. Damit sie, was ihre Karriere betraf, keinen Schaden

erlitt für künftige Fälle, sollte sie ungeprüft und so-

fort erhalten den Rang eines länger gedienten Rates des

Kaisers. Nun verweigerten alle die schwärzlich geübten Schreiber des

Hauses, das Bittgesuch zu verfassen an des Königs gewährenden

Hof. So war es der Pax, der doch weit eher zu loben den

Duft der Blumen und der Vögel lieblichen Sang in einer gar

trefflichen Ode von allen empfunden ward als geeignet, der

schließlich das unliebsame Gesuch hat müssen verfassen.


Endlich nun aber begann der Kampf gegen jene furchtbare

Hexe, welche die Truhen und Kästen aller der Reichen und

Bleichen mit finsterem Ernst überwachte. Egoistine

 hieß sie und grauenvoll war ihr Anblick. Nackt war

sie und zugleich mit glitzernden Steinen behängt. Überall

hing ihr in Fetzen das Fett, riesig der Goder, der ihr vom

Kinne hing. Glatzig der Kopf von goldenem Schmucke gekrönt,

riesig die Nase und spitz wie ein spitziger Pfeil klein und

stets gerötet der Augen grimmiges Paar. Schlafen nicht

konnt sie, nein schlafen konnte sie nie. Stets hielt sie die

Angst vorm Verluste von  auch nur einer einzigen Münze,

ja, selbst des Staubes auf einer einzigen Münze wach. Da

ging sie dann nächstens auf und ab vor der Truhen

unendlicher  Reih und grummelte böse und ängstlich zugleich

vor sich hin.


Als sie nun hörte, dass Suffio war gekommen, zu rauben der

Münzen gleich tausend und mehr, dass sie als Steuer diene dem

Fortschritt des Landes, stürzt sie sich irre vor Zorn auf ihn,

als er ihr nahte, noch wohlgemut an der Spitze der Ritter be-

-trächlichter Zahl. Nein, wie sie kämpfen konnte und toben und

winseln zugleich wie unaufhörlich traf der Schläge

 prasselndes Maß! Niemand und wär er der Stärkste gewesen

hätte dies unversehrt überlebt. So lag  denn

Suffio übel verletzt in der Himmelpforte  finstren Ge-

lassen, verbrachte die Zeit, mit Kartenspiel mit den Dienern, be

-wacht von Pampinus der niemand den Zutritt zum Saale des Großen ge-

stattet. Auch Essen nicht durfte und Wein dem Helden werden ge-

bracht, ohne dass Pampinus davon nahm eine Probe.


Nun nahte wieder die Zeit, da sich Magnus der Gute und seine Mannen zu

stellen hatte dem Reichstag auf geschlossenem Feld um

einzuholen die Mehrheit der Stimmen. Drei Mal war es Magnus ge-

lungen, mehr als die Hälfte der Stimmen zu sichern. Doch diesmal ge-

lang es nicht mehr. Dies kränkte den Magnus so sehr, dass er gänzlich be-

gab sich des Thrones und Latus, der Treue, Vasall von Beginn,

Pannoniens Weiten entsprossen,  erbte nun die Malaise.

Zum Herrn der Himmelpfortfeste jedoch erwählte er

Cornix, einst treuesten Diener des Levis, was Magnus furchtbar er-

zürnte. Doch hoffte Latus, dass Cornix die Künste des Levis

würde verwenden zu beruhigen das zornige Volk. Das tat er: so-

gleich bekam Egoistine das von Suffio Geraubte zurück.

Schwere Zeit nun kam unter Cornix , dem Herrn, für all die

Treuen des Suffio. Verbannt wurde Sanctus in ferne Bezirke.

So sank auch Haedilias Stern und der des Pampinus. Doch schon

 nahte ihr Rettung. Als Latus nämlich nach vielen schmerzlichen

Kämpfen ganz gerne wollte verzichten auf das gar zu

mühsame Amt , gab selber er frei die Wahl für den Cornix zum

 Kaiser. Der schickt, kaum gekrönt, den Modus, einen treuen Vasallen des Magnus

nun an die himmlische Pforte. Es hatte der Modus selber, bei

seinem Versuche, zu kämpfen im Geiste des großen Magnus der

Streiche nicht wenig erlitten, und dachte schon zu beenden das

schlimme Geschäft mit den mutigen Taten. Nun hat er sie

selbst zu vollbringen, die Tat, die dem Suffio so schwer war gekommen. Und

ihm gelang sie, indem er Egoistine die finstere

Hexe mit schönen Geschenken und fleißigem Kratzen am grauslichen

 Goderl beruhigte. Bald auch entdeckte er wieder die alten

Freunde aus Suffios Zeiten: Haedilia, Pampinus und auch den 

zahlenkundigen Probus.


Hier soll es enden das Lied von der braven Haedilia. Ein weiteres

wäre an anderer Tafel zu singen, wohl auch von anderem

Sänger,  so wie sie focht in Brüssel und wie sie dort

kam zu den höchsten der Ehren. Nun ist sie wieder zu-

rück, mit ihr sind hier der Weg- und Kampfgefährten

viele aus einstiger Zeit. Und vielfach sind ihre Blessuren. Auch

Pax  darf nicht fehlen, der seither das Amt des Barden das

wenig erwünschte getreulich verwaltet und alles besungen, was

 nur zu besingen war. Auch dass der altböse Feind der Orden der

 Dextrokuraten liegt nunmehr am Boden, schmählich besudelt, zu

hoffen ist gar, dass er sich bald wieder verschlüpfen wird in  jenen

grausigen Schluchten, aus denen er seinerzeit kam.


Wir aber sind hier, noch immer, schon wieder, und wir feiern  das Wiegen-

fest der Haedilia. Leben, so singet, soll sie noch viele

Jahre in unserer Mitte, nützlich, bescheiden und unentbehrlich.